Das Sachverständigenverfahren zur Klärung kollidierender Sachverständigengutachten

Ein Sachverständigenverfahren kann erheblichen Einfluss auf den Ausgang des Gerichtsprozesses haben und soll die Widersprüche miteinander kollidierende Sachverständigengutachten auflösen. Für die Entscheidungsfindung eines Gerichts in einem Versicherungsprozess ist es nämlich notwendig, dass die schadensverursachenden Umstände und die Schadenshöhe von den Parteien nachgewiesen werden. Diese Fakten werden regelmäßig im KFZ-Kaskoversicherungsfall durch ein oder mehrere Sachverständigengutachten festgestellt. Erstellt der Versicherer eine Schadensbewertung, die unterhalb der vom Versicherungsnehmer zu erwartender Entschädigung liegt, so steht dem Versicherungsnehmer grundsätzlich der Gerichtsweg offen. Der Versicherungsnehmer kann auch einen Sachverständigen beauftragen, um die Schadensausmaße nachzuweisen.

Kollidierende Sachverständigengutachten

Äußerst häufig kommt es vor, dass wenn mehrere Sachverständige bestellt werden, diese für ein und denselben Schaden unterschiedliche voneinander abweichende Schadensausmaße feststellen. Als Beispiel soll ein Verfahren vor dem OLG Naumburg (Urteil v. 16.01.2019 – 4 U 35/16) dienen, bei dem der Versicherungsnehmer einen Schadensgutachter beauftragt hat und dieser einen Schaden von 48.432,00 EUR festgestellt hat, wohingegen der vom Versicherer beauftragte Sachverständige nur eine Schadenshöhe von 7.151,00 EUR feststellen konnte.

Liegen erst mal zwei unterschiedliche Gutachten vor, stellt sich die Problematik der kollidierenden Sachverständigengutachten: Doch welche der unterschiedlichen Schadensermittlungen ist für das Gericht bindend?

Das Sachverständigenverfahren

Im Wege des Sachverständigenverfahrens gemäß § 84 VVG treffen zwei Schadensgutachter voneinander unabhängige Entscheidungen. Zu beachten ist, dass das Sachverständigenverfahren nur vonstattengeht, wenn im Versicherungsvertrag, respektive den Versicherungsbedingungen, die Durchführung ausdrücklich vorgesehen ist. Wenn das Verfahren nicht im Versicherungsvertrag vorgesehen ist, dann trägt der Versicherungsnehmer nach § 85 Abs. 2 VVG die Kosten seines beauftragten Sachverständigen. Die Kosten sind nicht erstattungsfähig, es sei denn der Versicherer hat zur Hinzuziehung einen Sachverständigen aufgefordert.

Das Sachverständigenverfahren stellt den Regelfall der kollidierenden Schadensgutachten dar. Im Verlauf des Sachverständigenverfahrens wird ein Schadensgutachter vom Versicherungsnehmer und ein weiterer vom Versicherer beauftragt. Beide Sachverständige beurteilen unabhängig voneinander den Schaden.

Das Verfahren wird durch die Entscheidung eines im Vorfeld durch die Sachverständigen benannten neutralen Sachverständigen, den sogenannten „Obmann“, beendet. Dieser Obmann wertet die vorhandenen Sachverständigengutachten entsprechend aus und trifft seinerseits auf Grundlage der Gutachten eine Schadensfeststellung. Insoweit lässt sich feststellen, dass dieses Obmann-Gutachten die Basis der Bindungswirkung beider Gutachten herstellt. Das Gericht beurteilt die Schadensregulierung auf Grundlage des Obmann-Gutachtens.

Der Obmann bewertet die Feststellungen der widerstreitenden Sachverständigen nicht auf ihre Richtigkeit, sondern trifft auf Grundlage ihrer Feststellung eine eigene Einschätzung des Sachverhalts. Die von den Sachverständigen erstellten Gutachten bilden jedoch die Grenze seiner Beurteilung, so dass er seinerseits keine neuen Bewertungsmaßstäbe einführen darf. Insbesondere ist der Sachverständige an Umstände gebunden, die im Zusammenhang mit dem Schadensfall stehen und darf keine weitreichenderen Gegebenheiten berücksichtigen. So darf ein Sachverständiger nicht ohne Grund mehrere Geschäftsjahre für die Schadensberechnung heranziehen, obwohl nur die Geschäftszahlen im Jahr des Schadensereignisses maßgeblich sind (siehe: BGH, Urteil v. 17.03.1971 – Az. IV ZR 209/69).

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Konfliktfall: Unverbindlichkeit des Obmann-Gutachtens

Weichen die Schadensgutachten der Sachverständigen voneinander ab und folgt der Obmann der für den Versicherungsnehmer ungünstigeren Feststellung, so stellt sich die Frage, ob die Feststellung des Obmanns verbindlich ist. Nach § 84 Abs. 1 S. 1 VVG gilt: „… die getroffene Feststellung [ist] nicht verbindlich, wenn sie offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweicht.“

Die Regelung sieht vor, dass die Feststellung offenbar und erheblich von der wirklichen Sachlage abweichen muss. So soll die Anfechtung von Feststellungen nur auf solche beschränkt werden, die offensichtlich unrichtig sind. Bestreitet der Versicherungsnehmer, dass der Obmann alle Umstände die für eine angemessene Schadensregulierung erforderlich sind berücksichtigt hat, dann muss nach § 84 Abs. 1 S. 2 VVG das Gericht entscheiden.

Das Gutachten ist nach gefestigter Rechtsprechung nur dann unverbindlich, wenn das Gesamtergebnis offenbar und erheblich unrichtig ist. Wurden einzelne Schadensposten vermeintlich falsch bewertet, so ist die Feststellung weiterhin verbindlich (BGH, Urt. v. 01.04.1987 – Az. IVa ZR 139/85; OLG Naumburg, Urt. v. 16.01.2019 – Az. 4 U 35/16). Dem Obmann steht die Feststellung zu, dass einzelne Posten in den Sachverständigengutachten unrichtig bemessen wurden. Für den Versicherungsnehmer unverbindlich ist die Feststellung nur bei einer offensichtlichen Unrichtigkeit des Gesamtergebnisses.

Insbesondere wird dieses Sachverständigenverfahren in der Elementarschadenversicherung genutzt. Es wird ein Obmann entscheiden, wenn die bestellten Gutachter zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Dabei ist der Obmann auf die untersuchten Gegebenheiten der vorherigen Gutachter beschränkt und darf keine neuen Umstände einbringen. Beispielhaft für dieses Verfahren ist die Feststellung eines Gutachters, der einen Schaden auf einen Rohrbruch zurückführt, wohingegen ein anderer Gutachter feststellt, dass der Rohrbruch nicht einen Wasserschaden in diesem Umfang bewirken konnte. Der Obmann wäre dann darauf beschränkt zu untersuchen, ob der Rohrbruch den konkreten Schaden verursachen konnte (LG Aachen, Urt. v. 01.07.2021 – Az. 9 O 426/20).

Offenbar unrichtig ist ein Ergebnis nur dann, wenn der Sachverständige falsche Berechnungs- oder Schätzungsgrundlagen oder unrichtige Bewertungsmaßstäbe angewendet hat (BGH, Urt. v. 30.11.1977 – Az. IV ZR 42/15). Im Grunde genommen muss der Obmann wesentliche Inhalte des Versicherungsvertrages falsch ausgelegt oder angewandt haben oder den tatsächlichen Sachverhalt nicht in Gänze erfasst haben und nur Bruchteilhaft zur Grundlage seiner Einschätzung gemacht haben.

Nach Einschätzung des OLG Koblenz (Urt. v. 22.08.2011 – Az. 10 U 242/11) ist ein Obmanngutachten dann richtig und verbindlich, wenn es sich in sachlicher Weise mit den strittigen Punkten beschäftigt und nachvollziehbar sind. Nachvollziehbar sind die Einschätzungen dann, wenn auf jeden Fall dann, wenn sie detailgetreu begründet sind. Insbesondere sind Ausführungen des Obmanns als richtig anzusehen, wenn er die Feststellungen der Vorgutachter auf ihre Plausibilität geprüft hat. Dass der Obmann den Versicherungsnehmer benachteiligt, ist unerheblich, weil der Obmann ein sachlich neutrales Letztgutachten erstellen soll, dass gerade nicht interessengebunden ist.

Die Vereinbarung im Versicherungsvertrag ein Sachverständigenverfahren durchführen zu müssen, bevor die Versicherungsleistung ausgezahlt wird, ist AGB-rechtlich unbedenklich und eine solche Klausel grundsätzlich wirksam (LG Düsseldorf, Urt. v. 24.07.2018 – Az. 9 O 372/12).

Fazit

In der Konsequenz kann sich der Versicherungsnehmer nicht mehr auf die für ihn günstigeren Feststellungen eines Sachverständigen berufen, wenn der Obmann anders entschieden hat. Das Obmanngutachten ist verbindlich und nur angreifbar, wenn es offensichtlich unrichtig ist (siehe oben). Die rechtliche „Schwelle“, ab wann ein Gutachten unrichtig ist oder wird, ist hoch angesetzt. Zur Regulierung eines Schadenfalles sollte ein Fachanwalt für Versicherungsrecht hinzugezogen werden, die richtige Bewertung der Sachverständigengutachten ist von nicht zu unterschätzender prozessualer Wichtigkeit. Weitere Informationen und Rechtsprechungen sind im Bereich „Versicherungsrecht“ zusammengefasst.

Zum Autor: Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke

Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.

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