Das Oberlandesgericht Karlsruhe hatte sich mit folgenden rechtlichen Fragen zu befassen gehabt: Ist die im Streitfall einschlägige bedingungsgemäße Leistungsbeschränkung für eine schuldhaft verspätete Anmeldung der Berufsunfähigkeit wirksam? Stellt das Zuwarten mit der Mitteilung bis zur Bescheidung eines Rentenantrags in der Sozialversicherung ein verschuldetes oder unverschuldetes Verhalten dar? (OLG Karlsruhe, Urt. v. 20.10.2009 – 12 U 79/09).
Der Kläger unterhält bei der beklagten Versicherung eine kapitalbildende Lebensversicherung mit einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung. Dem Vertrag liegen die Bedingungen für die Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (im Folgenden: BB-BUZ) zugrunde. Versicherte Person war die Ehefrau des Versicherungsnehmers. Der vorliegend streitentscheidende § 4 BB-BUZ hatte folgenden Wortlaut:
Ҥ 4 Wann beginnt und wann endet unsere Leistungspflicht?
(1) Der Anspruch auf die Berufsunfähigkeitsleistungen entsteht mit Beginn des Monats, der auf den Eintritt der Berufsunfähigkeit folgt, es sei denn, aus Absatz 2 ergibt sich ein späterer Beginn. Liegt Berufsunfähigkeit gemäß § 1 Abs. 2 vor, entsteht der Anspruch auf die Berufsunfähigkeitsleistungen mit Beginn des Monats, der auf den Ablauf der in diesem Absatz genannten Sechsmonatsfrist folgt.
(2) Wird uns die Berufsunfähigkeit später als sechs Monate nach ihrem Eintritt schriftlich mitgeteilt, so entsteht der Anspruch auf die Berufsunfähigkeitsleistungen erst mit Beginn des Monats der Mitteilung. Wird uns jedoch nachgewiesen, dass die rechtzeitige Mitteilung ohne Verschulden unterblieben ist, werden wir rückwirkend ab Beginn des auf den Eintritt der Berufsunfähigkeit folgenden Monats leisten.”
Wegen einer langwierigen Krankheit der Ehefrau des Versicherungsnehmers beantragte diese am 11. Januar 2007 bei der Deutschen Rentenversicherung eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Der Antrag wurde mit Bescheid vom 27. Februar 2007 zunächst zurückgewiesen, im anschließenden Widerspruchsverfahren wurde dann jedoch seitens der Deutschen Rentenversicherung mit Rentenbescheid vom 5. Juni 2008 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung mit Wirkung ab 1. August 2007 gewährt.
Der Versicherungsnehmer stellte sodann mit Schreiben vom 18. Juni 2008 unter Mitteilung dieses Sachverhalts einen Antrag auf Leistungen aus der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung mit Rückwirkung zum Januar 2007. Mit Schreiben vom 1. August 2008 teilte der Versicherer dem Versicherungsnehmer mit, dass entsprechend § 4 Abs. 2 BB-BUZ der Vertrag ab dem 1. Juni 2008 beitragsfrei gestellt werde und dass ab diesem Zeitpunkt die private Rente gezahlt werde. Eine rückwirkende Zahlung der Rente bereits ab dem 1. Januar 2007 wurde abgelehnt.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Berufung des Versicherungsnehmers (weitere Infos zum Ablauf des Gerichtsprozesses gegen BU-Versicherer siehe auch Der Prozess gegen den Versicherer).
Die Berufung hatte keinen Erfolg. Der Senat schließt sich vollumfänglich der in allen Punkten zutreffenden rechtlichen Würdigung des Landgerichts an. Es bestehen weder Bedenken an der Wirksamkeit der in § 4 Abs. 2 S. 1 BB-BUZ enthaltenen Klausel noch könne der Versicherungsnehmer sich vom Schuldvorwurf gemäß § 4 Abs. 2 S. 2 BB-BUZ entlasten.
Zunächst führt der Senat aus, dass der Wortlaut des § 4 Abs. 1 und 2 S. 1 BB-BUZ klar und eindeutig (§ 305 c Abs. 2 BGB) sei. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH seien Allgemeine Versicherungsbedingungen so auszulegen, wie ein durchschnittlicher VN sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Für den vorliegenden Fall bedeute dies, dass auch der um Verständnis bemühte Versicherungsnehmer den unzweideutigen Begriff „Eintritt“ der Berufsunfähigkeit nur dahin auffassen könne, dass damit das objektive Vorliegen der Berufsunfähigkeit als solches zu verstehen ist. Für ein abweichendes Verständnis gebe die Klausel nichts her. Maßgeblich für die Auslegung einer AGB-Bestimmung sei aber deren objektiver Erklärungswert und hierbei der allgemeine Sprachgebrauch, so das OLG Karlsruhe.
Außerdem habe das LG zu Recht in § 4 Abs. 2 S. 1 BB-BUZ keine überraschende Klausel gesehen. Die Annahme einer Überraschungsklausel rechtfertige sich nur dann, wenn zwischen den berechtigten Vorstellungen bzw. Erwartungen des Kunden an den Inhalt des abgeschlossenen Vertrags einerseits und dem tatsächlichen Inhalt der fraglichen AGB-Klausel andererseits eine derartig deutliche Diskrepanz besteht, die mehr als nur ungewöhnlich ist, sondern vielmehr geeignet sein muss, beim Kunden eine Übertölpelung oder Überrumpelung herbeizuführen. Nur falls der Kunde auf eine Regelung nach Lage der Umstände vernünftigerweise nicht gefasst zu sein brauchte, könne die Annahme einer Überraschungsklausel gerechtfertigt sein, meint der Senat.
Ausgehend von den obigen Ausführungen sei schon nicht ersichtlich und vom Versicherungsnehmer auch nicht überzeugend dargetan, worin ein solcher Überraschungseffekt konkret liegen könnte. Die Verpflichtung, im Versicherungsfall diesen möglichst frühzeitig dem Versicherer anzuzeigen, sei dem Versicherungsrecht generell immanent. Der Versicherer solle frühzeitig wissen, dass und welchen Ansprüchen er sich im konkreten Fall ausgesetzt sieht. Ansonsten bestünde die Gefahr, von einem Sachverhalt erstmals zu einem Zeitpunkt Kenntnis zu erlangen, in welchem sich eine Aufarbeitung der medizinischen Problematik für die Vergangenheit ungleich schwieriger gestalten würde als bei Kenntnis von Beginn an. Insofern bezwecken die Versicherungsbedingungen in legitimer Weise auch grundsätzlich objektiv eine zeitliche Begrenzung der Leistungspflicht des Versicherers.
Schließlich habe das LG zu Recht auch den Einwand mangelnden Verschuldens des Versicherungsnehmers nicht als durchgreifend erachtet. Er habe keine stichhaltige Begründung dafür liefern können, warum er davon abgesehen hat, parallel zum Antrag auf gesetzliche Rentenversicherung auch einen entsprechenden Leistungsantrag beim Versicherer zu stellen. Der Wortlaut der Bedingungen gebe für das Zuwarten des Versicherungsnehmers bis zum Abschluss des gesetzlichen Rentenverfahrens – wie ausgeführt – nichts her, zumal auch keine Deckungsgleichheit in den Voraussetzungen beider Verfahren bestehe (Erwerbsunfähigkeit bzw. -minderung einerseits und Berufsunfähigkeit andererseits).
Nach Auffassung des Senats werde mangelndes Verschulden regelmäßig nur dann anzunehmen sein, wenn der Versicherungsnehmer vom Eintritt eines Zustands, der die Annahme bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit rechtfertigte, nichts wusste und ihn auch an der Nichtkenntnis ein Verschulden nicht trifft. Darlegungs- und beweisbelastet für sein mangelndes Verschulden sei der Versicherungsnehmer. Einen solchen Beweis habe der Versicherungsnehmer im Streitfall nicht bringen können. Vielmehr lagen Umstände, die eine Berufsunfähigkeit auf privatversicherungsrechtlicher Basis als wahrscheinlich erscheinen ließen, förmlich auf der Hand.
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Die Entscheidung des OLG Karlsruhe ist im Ergebnis streitbar, hat jedoch durchaus Relevanz für die Praxis. Der Senat arbeitet zutreffend die Bedeutung der Pflichten des Versicherungsnehmers im Rahmen der Berufsunfähigkeitsversicherung heraus. Dementsprechend hat der Versicherer auch nur dann seiner Leistungspflicht nachzukommen, wenn der Versicherte den Eintritt des Versicherungsfalls und damit seine Berufsunfähigkeit beim Versicherer anzeigt.
Problematisch an der Entscheidung ist, dass Versicherte in der Regel nicht sofort nach dem Eintreten einer Erkrankung dem Versicherer eine mögliche Berufsunfähigkeit melden. Denn Mangels medizinischer und berufskundlicher Kenntnisse kann es dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer im Einzelfall schwerfallen, die Auswirkungen seiner gesundheitlichen Einschränkungen auf seine berufliche Tätigkeit oder eine in Betracht kommende Verweisungstätigkeit zutreffend einzuschätzen. Vielmehr „schleichen sich Erkrankungen ein“ und münden erst nach vielen Monaten in – beispielsweise – psychischen Erkrankungen. Für die Zeit der Nichtmeldung wird der Versicherer also leistungsfrei, wenn der Versicherungsnehmer sich nicht entsprechend „entschuldigen“ kann, ihn also ein Verschulden trifft. Der BGH hatte zu diesen Klauseln bereits im Jahr 1994 entschieden und diese für wirksam gehalten (siehe Anspruchsverlust des Versicherten durch „Verspätungsklauseln“ des Versicherers wirksam?). Die vorliegende Entscheidung lehnt sich also an.
Beruft sich der Versicherer auf Verspätungsklauseln ist stets zu empfehlen, einen entsprechenden Entschuldigungsbeweis dahingehend zu erbringen, dass eine Leistungsbegrenzung vermieden werden kann. Kann der Versicherungsnehmer darlegen und beweisen, dass ihn hinsichtlich einer Fristversäumung kein Verschulden trifft, so könnten ihm gegenüber Leistungen aus der Versicherung auch für die Vergangenheit erbracht werden.
Für den Fall, dass Versicherungsvermittler Versicherte in BU-Leistungsverfahren begleiten, sollte der Vermittler dem Versicherten zwingend anraten juristischen Rat einzuholen, damit der Einzelfall und damit auch die Entscheidung des Versicherers entsprechend überprüft werden kann.
Daher ist es für Vermittler und Versicherte von Vorteil, sich mit dem Ablauf eines typischen BU-Verfahrens mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung vertraut zu machen, bevor Leistungsansprüche geltend gemacht werden. Es ist daher sinnvoll frühzeitig anwaltliche Expertise in Anspruch zu nehmen, um etwaige Anspruchsvereitelungen zu vermeiden. Allgemeine Informationen finden Sie auch unter „Versicherungsrecht„, sowie „Berufsunfähigkeitsversicherung„. Einen Überblick finden Sie auch unter Berufsunfähigkeitsversicherung zahlt nicht. Hier ist ein Leitartikel zu diesem Thema zu finden: Verspätungsklauseln.
Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.
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