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Pauschale Schweigepflichtentbindung in der Berufsunfähigkeitsversicherung (LG Berlin)

Darf der Berufsunfähigkeitsversicherer eine pauschale Schweigepflichtentbindung vom Versicherten verlangen? Mit dieser Frage hatte sich das Landgericht Berlin (LG Berlin) zu befassen gehabt. Das Gericht musste sich in diesem Zusammenhang mit der Mitwirkungspflicht des Versicherungsnehmers bei der Leistungsprüfung des Versicherers und deren Grenzen auseinandersetzen (LG Berlin, Urt. v. 18.08.2021 – 23 O 180/18).

Versicherer verlangt Schweigepflichtentbindung

Der klagende Versicherungsnehmer unterhält bei dem beklagten Versicherer eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Aus dieser machte der Versicherungsnehmer mit Leistungsantrag vom 28.02.2017 vertragliche Ansprüche auf Leistungen geltend. Daraufhin übersandte der Versicherer die Erstprüfungsunterlagen (Leistungsantrag). Der Versicherte übersandte dem Versicherer sodann diverse Unterlagen bzw. Arztberichte und forderte zur Leistungsentscheidung auf.

Der Versicherer teilte dem Versicherungsnehmer mit, dass er die Unterlagen eingehend geprüft und auch Rücksprache mit dem hausinternen ärztlichen Dienst gehalten habe. Dennoch könne er nicht beurteilen, ob eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit vorliege. Das liege daran, dass das Versicherungsunternehmen keine Informationen zum aktuellen Befinden des Versicherten bzw. zu aktuellen Befunden habe. Letztendlich sei der medizinische und außermedizinische Sachverhalt für den Versicherer noch nicht ausreichend, um über das weitere Vorgehen entscheiden zu können. Aus diesem Grund forderte der Versicherer vom Versicherungsnehmer dessen weitere Mitwirkung zur Prüfung des Leistungsfalles. Dazu forderte er vom Versicherungsnehmer die Abgabe einer „pauschalen Schweigepflichtentbindungserklärung“ zur Einholung weiterer ärztlicher Unterlagen. Eine Leistungsentscheidung hatte der Versicherer bis dahin noch nicht getroffen.

Der Versicherungsnehmer hat mit seiner Klage die Zahlung von Berufsunfähigkeitsrenten für die Zeit von September 2016 bis Juni 2018 nebst Zinsen begehrt. Daraufhin hat der Versicherer im gerichtlichen Verfahren die Zahlung der Berufsunfähigkeitsrenten uneingeschränkt anerkannt. Die Zahlung von Zinsen hat der Versicherer hingegen zum April 2020 anerkannt.

Der Versicherungsnehmer begehrt nunmehr noch die Zahlung der Zinsen für den Zeitraum von Juni 2017 bis Ende März 2020.

Im Kern dieses Verfahrens vor dem LG Berlin geht es mithin um die rechtliche Einschätzung hinsichtlich der pauschalen Schweigepflichtentbindungserklärung, die Versicherer von ihren Versicherungsnehmern immer wieder abverlangen.

Ist eine pauschale Schweigepflichtentbindung zulässig?

Der Versicherungsnehmer hatte mit seiner Klage vor dem Landgericht überwiegend Erfolg. Ihm stehen gegen den Versicherer die verlangten Zinsen auf Berufsunfähigkeitsrenten und Beitragsrückzahlungsansprüche teilweise zu, so das LG Berlin.

Der Versicherte sei, was zwischen den Parteien mittlerweile unstreitig ist, bedingungsgemäß berufsunfähig im Sinne der Versicherungsbedingungen gewesen. Dies wurde gutachterlich festgestellt. Der Leistungsanspruch des Versicherten sei demnach zu diesem Zeitpunkt ohne weiteres fällig gewesen, da ein sachgerecht prüfender Versicherer nach Maßgabe von § 14 Abs. 1 VVG seine notwendigen Erhebungen bereits vorprozessual abgeschlossen habe. Danach werde der Anspruch auf Geldleistungen fällig, wenn der Versicherer die zur Feststellung des Versicherungsfalls und des Umfangs der Leistungen notwendigen Erhebungen getroffen hat.

Notwendige Erhebungen seien alle Maßnahmen, die ein durchschnittlich sorgfältiger Versicherer des entsprechenden Versicherungszweiges anstellen muss, um das Bestehen und den Umfang seiner Leistungspflicht abschließend zu ermitteln. Maßgeblich sei allerdings weder, ob der Versicherer subjektiv weiteren Aufklärungsbedarf sah noch, ob er objektiv tatsächlich vorlag. Vielmehr komme es darauf an, ob eine solche Notwendigkeit bei einer ex-ante-Betrachtung aus der Sicht verständiger Vertragsparteien vertretbar erscheinen durfte, meint das LG. Einem Versicherer stehe im Anschluss an seine Recherchen auch eine – kurze, regelmäßig auf zwei bis maximal drei Wochen zu bemessende – Überlegungs- und Entscheidungsfrist zu.

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Pauschale Schweigepflichtentbindung ist rechtswidrig!

Weiter führte die Kammer aus, dass Fälligkeit in diesem Fall bereits ohne weiteres mit der Übersendung des Leistungsantragsformulars des Versicherers eingetreten sei. Denn die dort verlangte Einwilligung in die Datenerhebung sei rechtswidrig.

Verlange der Versicherer zu viel, gebe er dem Versicherten nicht die Möglichkeit der Selbstbeschaffung. Sorgt er durch seine Hinweise nicht für ausreichend Transparenz, werde die Verweigerung der Mitwirkung regelmäßig der Fälligkeit der Leistungen nicht entgegenstehen können. Das gelte vor allem dann, wenn sich der Versicherte weigert, eine vom Versicherer formulierte, zu weit gefasste Schweigepflichtentbindung abzugeben. Letztlich obliege es nicht dem Versicherten, eine solche so zu modifizieren, dass sie seiner Mitwirkungspflicht entspricht, meint das LG Berlin. Da das weitergehende, vom Versicherungsnehmer nicht erfüllte Mitwirkungsverlangen der Beklagten rechtswidrig gewesen sei, sei danach hier ohne weiteres eine Fälligkeit eingetreten.

Das Bundesverfassungsgericht einem Fall ausgeführt, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung es gebiete dafür Sorge zu tragen, dass ein informationeller Selbstschutz für Einzelne tatsächlich möglich ist. Das Gericht regte in dem Verfahren Pflichten an, die sicherstellen, dass Versicherte und Versicherungen im Dialog entwickeln, welche Daten zur Leistungsprüfung erforderlich sind. Denn die durch vorformulierte Einzelermächtigung vorgesehene Schweigepflichtentbindung würde es der Versicherung ermöglichen, auch über das für die Abwicklung des Versicherungsfalls erforderliche Maß hinaus in weitem Umfang sensible Informationen über seine Versicherungsnehmer einzuholen. Das betreffe Belange der Versicherten erheblich, weil sich die Daten auf detaillierte Angaben zu ihrer Gesundheit und den ärztlichen Behandlungen, also auf Angaben höchstpersönlicher Natur beziehen. Das sei daher nicht zulässig (BVerfG, Beschluss v. 17.07.2013 – 1 BvR 3167/08).

Fehlende Einwilligung des Versicherten

Es habe zudem an einer wirksamen Einwilligung des Versicherungsnehmers gefehlt.  Nach Ansicht der Kammer berechtige nicht jede vom Betroffenen gegebene Einwilligung den Versicherer, Gesundheitsdaten zu erheben. Dies könne nur eine freiwillig gegebene Einwilligung. Freiwilligkeit bedeute in diesem Zusammenhang nicht nur die Abwesenheit von Zwang, sondern setze vielmehr voraus, dass dem Versicherten vom Versicherer die Möglichkeit gegeben wird, zu erkennen, wie und in welchem Umfang er bei der Datenerhebung mitwirken muss. Nur wer um seine Rechte und Pflichten weiß bzw. wissen kann, könne sich dieser freiwillig begeben.

In einem Verfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart, bei dem es insbesondere auch um die Problematik der Datenerhebung ging, hatte das Gericht ausgeführt, dass der genaue Umfang der Datenerhebung nicht erkennbar gewesen sei  (OLG Stuttgart, Urt. v. 21.12.2017 – 7 U 101/17). Dem betroffenen Versicherungsnehmer müsse die Notwendigkeit der Datenerhebung erläutert werden. Es müsse erkennbar sein, welche Informationen der Versicherer einholen will. Nur so könne der Versicherte der Datenerhebung zustimmen oder ihr widersprechen (siehe hierzu die nachfolgende Urteilsbesprechung: „Verwertungsverbot von Kundendaten bei Verstoß gegen § 213 VVG?“)

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Hinweispflichten des Versicherers?

Weiter führt die Kammer aus, dass der BGH daher verlange, dass der Versicherer den Versicherungsnehmer, der regelmäßig die Grenzen seiner Mitwirkungspflicht nicht kennen werde, Eingang seiner Datenerhebung auf diverse Punkte hinweise (siehe auch Schweigepflichtentbindung in der Berufsunfähigkeitsversicherung (BGH)).

Der Versicherte sei zunächst auf sein Recht zur Selbstbeschaffung hinzuweisen. Es handele sich dabei um die generelle Möglichkeit des Betroffenen, dem Versicherer die Datenerhebung bei Dritten gänzlich zu verwehren, und zwar selbst dann, wenn die Daten ohne Zweifel für die Leistungsprüfung notwendig sein sollten. Ein solcher Hinweis fehle im hiesigen Fall.

Ferner sei nach Auffassung des LG Berlin darauf hinzuweisen, dass auch in dem Fall, in dem sich der Versicherungsnehmer nicht für eine Selbstbeschaffung entscheidet, er dem Versicherer bei der Datenerhebung nicht freie Hand lassen, sondern nur an einer gestuften Datenerhebung mitwirken müsse. Dazu führt die Kammer aus, dass der Versicherte also darauf hinzuweisen sei, dass sich die Erhebungen des Versicherers zunächst auf solche Daten beschränken müssen, die ihm lediglich einen Überblick verschaffen können, und dass er erst im Anschluss besonders sensible Daten (z. B. Diagnosen, Behandlungsweisen) preisgeben müsse, sollte der Versicherer sein Auskunftsverlangen weiter konkretisieren können. Außerdem sei er darauf hinzuweisen, dass es ihm freisteht, dem Versicherer sofort eine umfassende Datenerhebung zu ermöglichen, so die Kammer. Solche Hinweise liegen in diesem Fall nicht vor.

Mangels entsprechender Hinweise könne damit dahinstehen, dass die Hinweise so formuliert sein müssen, dass sie ihre Informationsfunktion erfüllen können, insbesondere ihrer Bedeutung entsprechend gestaltet und platziert werden. Irgendeine dem genügende Formulierung und Gestaltung finde sich dort ebenfalls nicht, so die Kammer.

Abschließend führte das Landgericht aus, dass der Versicherer, sofern der Versicherte ihm zur Leistungsprüfung bereits Angaben gemacht und Unterlagen eingereicht hat, im Rahmen einer sekundären Darlegungslast aufzeigen müsse, welche weiteren Informationen er zur sachgerechten Prüfung seiner Leistungspflicht noch bedarf, da sich diese Umstände typischerweise der Kenntnis des Versicherungsnehmers entziehen. Das sei hier aber nicht geschehen. Der Versicherer habe solche Umstände nicht aufzeigen können.

Hinweis für die Praxis

Diese Entscheidung des LG Berlin kann im Ergebnis überzeugen. Einmal mehr hat ein Gericht rechtlich zutreffend herausgearbeitet, dass die pauschalen Schweigepflichtentbindungen der Berufsunfähigkeitsversicherung unzulässig sind. Doch mit Sicherheit werden Versicherungen, die diese pauschalen Entbindungen von der Schweigepflicht mit dem Leistungsantrag – zum Beispiel bei Berufsunfähigkeit – ohnehin häufig einholen, hiervon weiterhin Gebrauch machen. Versicherungsnehmern und Vermittlern ist daher abzuraten, von Versicherern vorgelegte pauschale Schweigepflichtentbindungserklärungen einfach so zu unterzeichnen. Es empfiehlt sich daher frühzeitig anwaltliche Unterstützung im Leistungsfall einzuholen, um die Vereitelung von vertraglichen Ansprüchen zu verhindern.

Kommt es dennoch zu einer Leistungseinstellung eines Berufsunfähigkeitsversicherers, ist es sinnvoll auch diese Leistungsablehnung anwaltlich überprüfen zu lassen. Vor diesem Hintergrund ist es zweckmäßig sich mit dem Ablauf eines typischen BU-Verfahrens mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung vertraut zu machen.

Weitere Informationen und Rechtsprechungen haben wir für Sie unter „Versicherungsrecht“ und themenspezifisch unter „Berufsunfähigkeitsversicherung“ zusammengefasst. Einen Überblick finden Sie auch unter Berufsunfähigkeitsversicherung zahlt nicht.

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Zum Autor: Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke

Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.

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