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Berücksichtigt die Gliedertaxe individuelle Besonderheiten des Versicherungsnehmers? (OLG Hamm)

Das OLG Hamm hatte mit Urteil vom 09.05.2007 (Az.: 20 U 228/06) darüber zu entschieden, inwieweit die eigene individuelle Leistungsfähigkeit des Versicherungsnehmers bei der Bestimmung der Invalidität im Rahmen der Gliedertaxe Berücksichtigung findet.

Streit über die Höhe der Invaliditätsleistung

Der Versicherte stürzte von einer ca. 4 Meter hohen Arbeitsbühne und zog sich dabei erhebliche Verletzungen zu. Er erlitt einen Genickbruch im Bereich des 2. Halswirbelkörpers, einen Kompressionsbruch des 6. Brustwirbelkörpers, sowie diverse Hautverletzungen. Die Verletzung des zweiten Halswirbels heilte nach einer Operation gut aus, allerdings blieb nach den Röntgenbildern eine nicht objektivierbare Versteifung des Nackens zurück. Ferner klagte der Versicherungsnehmer über Schmerzen.

Der Sachverständige bemaß die Invalidität unter Berücksichtigung der objektivierbaren Befunde und der ihm glaubhaft erscheinenden subjektiven Beschwerden des Versicherungsnehmers mit 50%. Der Versicherungsnehmer war jedoch der Ansicht, dass die Invalidität zu gering bemessen sei und dass sich zusätzlich eine höhere Invalidität aus der vereinbarten verbesserten Gliedertaxe ergebe.

Keine Berücksichtigung individueller Leistungsfähigkeit

Das OLG Hamm führte in seinem Urteil aus, dass die Definition der Invalidität allein auf die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit abstelle und auf jeden Versicherungsnehmer abziele, unabhängig davon, ob er berufstätig ist oder nicht. Als Maßstab werde die „normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit“ herangezogen, deren Beeinträchtigung unter ausschließlicher Berücksichtigung medizinischer Gesichtspunkte zu beurteilen sei.

Anhaltspunkte dafür, dass unter der „normalen Leistungsfähigkeit“ nicht die eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers zu verstehen ist, sondern dass seine individuelle Leistungsfähigkeit, wie etwa im Beruf, beim Sport oder beim Musizieren maßgebend sein könnte, lägen nicht vor. Die Gliedertaxe setze ersichtlich einen generellen Maßstab ohne Berücksichtigung individueller Besonderheiten bei einzelnen Versicherungsnehmern.

Die Tätigkeit in einem ausgeübten Beruf sei in der Unfallversicherung anders als in der Berufsunfähigkeitsversicherung kein maßgebendes Beurteilungskriterium. Denn in der Unfallversicherung sei das Risiko einer unfallbedingten Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit versichert, nicht aber das Risiko, berufsunfähig zu werden.

Bemessung der Invalidität außerhalb der Gliedertaxe

Vorliegend sei die Invalidität nach den Versicherungsbedingungen zu bestimmen, da der Wirbelsäulenschaden nicht von der Gliedertaxe umfasst ist. Die Entschädigung für die Beeinträchtigung von Körperteilen oder Sinnesorganen, die nicht von der Gliedertaxe umfasst sind, sei in einer Klausel geregelt. Hierbei sei diese Erweiterung des Versicherungsschutzes bei verständiger Würdigung ebenfalls an einem generellen Maßstab zu messen. Die Schätzung des Invaliditätsgrades habe sich also an der körperlichen Leistungsfähigkeit eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers zu orientieren.  Allerding sei eine Invalidität von etwa 100% nicht nur dann anzunehmen, wenn der Versicherte gar nicht mehr beruflich arbeiten kann und auch im Privatleben keine Leistungen mehr erbringen kann.

Der vom Versicherer vorliegend zu entschädigende Invaliditätsgrad betrage 50%. Dies folge aus den widerspruchsfreien, von zutreffenden tatsächlichen Feststellungen ausgehenden, nachvollziehbaren und deshalb überzeugenden gutachterlichen Ausführungen und Schlussfolgerungen des Sachverständigen. Dieser habe ausgeführt, dass bei der Bemessung der Leistungsminderung des Versicherten unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere auch der Schmerzsymptomatik, von einem Grad von 50% auszugehen sei.

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Verbesserte Gliedertaxe

Die vereinbarte verbesserte Gliedertaxe führe unmittelbar zu einer Erhöhung des nach der „normalen“ Gliedertaxe ermittelnden Invaliditätsgrades. Die verbesserte Gliedertaxe sehe indes keine Erhöhung der außerhalb der Gliedertaxe ermittelten Invalidität vor.

Es könne jedoch dahingestellt bleiben, ob ein Wertungswiderspruch zwischen der außerhalb der Gliedertaxe ermittelten Invalidität und den Invaliditätsgraden der Gliedertaxe bestehe und somit auf die Invaliditätsgrade der „normalen“ oder der „verbesserten“ Gliedertaxe abzustellen ist. Denn auch bei Berücksichtigung der Invaliditätsgrade der verbesserten Gliedertaxe sei kein Wertungswiderspruch festzustellen. Der Sachverständige habe nachvollziehbar dargelegt, dass jemand, der eine Hand im Handgelenk verloren habe, deutlich mehr eingeschränkt sei als der Versicherte, da dieser sich – anders als der Versicherte – nicht selbst versorgen könne. Seien die Beeinträchtigungen des Versicherten aber geringer als die eines Menschen, der eine Hand verloren habe, stehe die beim Versicherten festgestellte Invalidität von 50%nicht in einem solchen Missverhältnis selbst zu der nach der verbesserten Gliedertaxe im Falle des Verlustes der Hand anzunehmenden Invalidität von 65%, das einen Wertungswiderspruch begründen könnte. Somit führe auch die Geltung der verbesserten Gliedertaxe nicht zur Erhöhung des Invaliditätsgrades.

Dem Versicherungsnehmer stehe im Ergebnis kein Anspruch auf Zahlung einer weiteren Invaliditätszahlung zu. Die Invaliditätsentschädigung bemesse sich nach dem unfallbedingten Invaliditätsgrad des Versicherten von 50%.

Fazit

Die Gliedertaxe setzt einen generellen Maßstab ohne Berücksichtigung individueller Besonderheiten einzelner Versicherungsnehmer. Dementsprechend finden die eigenen individuellen Leistungsfähigkeiten des Versicherten keine Berücksichtigung bei der Bestimmung der Invalidität. Vielmehr wird allein auf die normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit des durchschnittlichen Versicherungsnehmers abgestellt.

Gleichwohl ist die Feststellung der Invalidität außerhalb der Gliedertaxe mit erheblichen rechtlichen Unsicherheiten verbunden. Daher kann es durchaus sinnvoll sein, im Zweifelsfall einen im Versicherungsrecht spezialisierten Rechtsanwalt mit der genauen Prüfung des Einzelfalles zu beauftragen. Gerne stehen hierfür auch Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte zur Verfügung. Weitere Informationen zur Gliedertaxe finden Sie hier: Die Gliedertaxe in der Unfallversicherung

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Zum Autor: Rechtsanwalt Jens Reichow

Rechtsanwalt Reichow ist Partner der Hamburger Kanzlei Jöhnke & Reichow. Er betreut vor Allem Verfahren im Versicherungsrecht, zur Haftung von Versicherungsvermittlern und Streitigkeiten aus dem Handelsvertreterrecht. Nähere Angaben zu Jens Reichow finden Sie unter folgendem Anwaltsprofil:

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Rechtsanwalt hilft bei Streit mit Unfallversicherung wegen Auslegung der Gliedertaxe

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