Versicherungsschutz trotz Balkonsturz nach Drogeneinnahme? (LG Dortmund)

Stürzt ein Versicherter von einem Balkon, nachdem er Drogen zu sich nahm, stellt sich für den Versicherer die Frage, ob es sich um einen Suizid gehandelt haben könnte. Diese Frage wirkt sich wesentlich auf die Leistungspflicht des Versicherers aus. Bei einer vorsätzlichen Selbsttötung innerhalb der Karenzzeit kann dieser nämlich leistungsfrei sein. Doch kann ein Suizid bereits dann angenommen werden, wenn der Versicherte Drogen nahm und dann vom Balkon gefallen ist? Hiermit hat sich das LG Dortmund in der nachstehenden Entscheidung beschäftigt (LG Dortmund, Urteil vom 28.02.2008 – Az. 20 U 242/07).

Tod nach Balkonsturz

Der Verstorbene war in der Unfallversicherung seiner Eltern mitversichert. Die Versicherung umfasste verschiedene Leistungen, darunter eine Todesfallleistung.

Der Versicherte stürzte von einem Balkon im 5. OG. Nach intensivmedizinischer Betreuung verstarb er einen Tag später. Dies zeigten die Eltern dem Versicherer an und fügten der Schadensanzeige eine Aufenthaltsbescheinigung des Versicherten in dem behandelnden Krankenhaus bei. In dieser Bescheinigung wurden dem Versicherten unter anderem eine depressive Episode und eine akute, vorübergehende psychotische Störung attestiert.

Im Zuge der Leistungsprüfung stieß der Versicherer auf einen Bericht aus der Ermittlungsakte. In diesem hieß es, dass die Nachbarin des Versicherten diesen am Unfalltag auf dem Balkon gesehen habe und dieser einen verwirrten Eindruck gemacht und „Drugs & Rock´n Roll“ gerufen habe. Zudem habe sie einen Hocker auf dem Balkon gesehen, auf welchen er gestiegen sein könnte. Der verwirrte Eindruck bestand schon einige Tage zuvor. Auch der sozialpsychiatrische Dienst wurde informiert. Anzeichen für Fremdverschulden gab es nicht. Der Polizeibericht ging daher von einem Unfall aufgrund von Drogenkonsum aus.

Der Versicherer verweigerte jedoch die Auszahlung der Versicherungssumme an die bezugsberechtigten Eltern, da nach Ansicht des Versicherers ein nicht versicherter Suizid vorgelegen habe. Mit der Klärung dieser Frage befasste sich das LG Dortmund in seiner erstinstanzlichen Entscheidung.

Indizien für Suizid?

Dem LG Dortmund nach trifft die Darlegungs- und Beweislast dafür, die Unfreiwilligkeitsvermutung zu widerlegen, den Versicherer. Dieser könne sich nicht auf die Regeln des Anscheinsbeweises berufen, denn es verbiete sich beim Tod eines Menschen von einem typischen Geschehensablauf für menschliche willensgesteuerte Verhaltensweisen auszugehen. Für den erforderlichen Strengbeweis reiche es jedoch aus, dass keine unumstößliche Gewissheit, sondern ein für das praktische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit, der vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet, ohne diese notwendig auszuschließen, vorliegt. Für einen Suizid sprachen nach Ansicht des LG Dortmund mehrere Tatsachen.

Umstände des Todes sprechen gegen Unfreiwilligkeit

Zum einen habe sich der Versicherte angesichts des Körperschwerpunktes auf einen Hocker auf dem Balkon stellen und sich über dessen Geländer beugen müssen, damit es zum Sturz ohne Fremdverschulden hätte kommen können. Die Lebenserfahrung spreche jedenfalls zunächst dagegen, dass ein solches Vorgehen ohne jegliche Absicht sich selbst zu töten geschehen sein könne. Zudem habe der Versicherte Verletzungen aufgewiesen, welche für einen Unfall untypisch seien, denn der Versicherte habe keinerlei Verletzungen an den Extremitäten aufgewiesen. Diese seien bei einem Unfallgeschehen meist verletzt, da unfreiwillig Stürzende reflexartig versuchen würden, den Fall abzubremsen.

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Alternativer Geschehensablauf?

Ob diese Tatsachen allein ausreichen, um einen Suizid durch Indizien im Strengbeweis zu beweisen, könne jedoch dahinstehen, wenn der einzig andere denkbare Geschehensablauf ebenfalls zur Leistungsfreiheit des Versicherers führen würde. Denn gemäß den Versicherungsbedingungen der Unfallversicherung sei der Versicherer ebenfalls leistungsfrei, wenn das Unfallereignis Folge einer krankhaften oder alkohol- oder betäubungsmittelbedingten Geistes- oder Bewusstseinsstörung war. Ob ein Suizid vorlag oder nicht könne deshalb dahinstehen, wenn ein solcher Fall der einzig mögliche alternative Geschehensablauf gewesen sei.

Dies sei hier der Fall, denn wenn es sich nicht um einen Suizid und somit um ein vorsätzliches Geschehen gehandelt habe, sei ein Unfall in Folge der Drogeneinnahme des Versicherten die einzig denkbare Alternative. Dabei sei es auch unerheblich, ob der Versicherte durch seinen Drogenkonsum die Schwelle der betäubungsmittelbedingten Bewusstseinsstörung überschritt. Denn zumindest habe entweder die psychische Beeinträchtigung oder der Drogenkonsum dazu geführt, dass die normalerweise vorhandene Auffassungsgabe und das Reaktionsvermögen so weit herabgesetzt waren, dass selbst einfache Schutzreflexe ausgeschaltet gewesen seien. In jedem Fall sei jedenfalls die Schwelle einer Geistes- oder Bewusstseinsstörung überschritten gewesen, denn eine unbeeinträchtigte Reaktion auf den Sturz habe nicht mehr stattgefunden.

Deshalb sei es unerheblich, ob es sich um einen Unfall oder um einen Suizid gehandelt habe. Denn in beiden Fällen läge eine Leistungsfreiheit des Versicherers vor. Andere ernstzunehmende alternative Geschehensabläufe, nach welchen eine Leistungspflicht des Versicherers bestehe, kämen nicht in Betracht.

Fazit

Die Tatbestände, bei denen ein Unfallversicherer und ein Lebensversicherer leistungsfrei sein können, unterscheiden sich erheblich. In der Lebensversicherung kommt es sehr wohl darauf an, ob sich der Versicherte vorsätzlich selbst getötet hat oder lediglich ein Unfall vorgelegen hat. Eine vorherige Drogeneinnahme kann dabei sogar dazu führen, dass selbst bei einem Suizid noch Versicherungsschutz besteht. Hintergrund ist, dass Versicherungsschutz in der Lebensversicherung auch dann besteht, wenn der Selbstmord in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen worden ist. Ein solcher Zustand kann auch drogenbedingt entstehen.

Es ist jedenfalls immer das Einzelfallgeschehen unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände zu betrachten. Verweigert die Lebensversicherung bezugsberechtigten Personen die Leistung, kann es sich daher durchaus empfehlen einen im Versicherungsrecht spezialisierten Rechtsanwalt hinzuzuziehen. Weitere interessante Beiträge zum Thema finden sie hier: „Zahlt die Lebensversicherung nach einem Suizid?

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Zum Autor: Rechtsanwalt Jens Reichow

Rechtsanwalt Reichow ist Partner der Hamburger Kanzlei Jöhnke & Reichow. Er betreut vor Allem Verfahren im Versicherungsrecht, zur Haftung von Versicherungsvermittlern und Streitigkeiten aus dem Handelsvertreterrecht. Nähere Angaben zu Jens Reichow finden Sie unter folgendem Anwaltsprofil:

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