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Vertragliche Obliegenheit zur Schweigepflichtentbindung? (BVerfG)

Das Bundesverfassungsgericht hatte sich mit der Frage zu befassen, ob den Versicherungsnehmer eine allgemeine vertragliche Obliegenheit zur Schweigepflichtentbindung trifft, oder ob eine entsprechende Klausel verfassungswidrig sein könnte (BVerfG, Beschl. v. 23.10.2006 – 1 BvR 2027/02).

Ablehnung der Einzelermächtigung

Die Versicherungsnehmerin unterhielt bei dem Versicherer einen Lebensversicherungsvertrag mit einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung. Vertragsgrundlage waren unter anderem die besonderen Bedingungen für die Berufsunfähigkeitszusatzversicherung:

„§ 4 Welche Mitwirkungspflichten sind zu beachten, wenn Leistungen wegen Berufsunfähigkeit verlangt werden?

(2) Wir können außerdem – dann allerdings auf unsere Kosten – weitere ärztliche Untersuchungen durch von uns beauftragte Ärzte sowie notwendige Nachweise – auch über die wirtschaftlichen Verhältnisse und ihre Veränderungen – verlangen, insbesondere zusätzliche Auskünfte und Aufklärungen. Der Versicherte hat Ärzte, Krankenhäuser und sonstige Krankenanstalten sowie Pflegeheime, bei denen er in Behandlung oder Pflege war oder sein wird, sowie Pflegepersonen, andere Personenversicherer und Behörden zu ermächtigen, uns auf Verlangen Auskunft zu erteilen…“

Im Jahr 1999 wurde die Versicherungsnehmerin wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt. Daraufhin machte sie Ansprüche aus der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung gegenüber dem Versicherer geltend. Nachfolgend übersandte der Versicherer der Versicherungsnehmerin den entsprechenden Leistungsantrag, der folgende Ermächtigung zur Schweigepflichtentbindung enthielt:

„…von allen Ärzten, Krankenhäusern und Krankenanstalten, bei denen ich in Behandlung war oder sein werde sowie von meiner Krankenkasse: … und von Versicherungsgesellschaften, Sozialversicherungsträgern, Behörden, derzeitigen und früheren Arbeitgebern sachdienliche Auskünfte einzuholen. Die befragten Personen und Stellen entbinde ich hiermit ausdrücklich von ihrer Schweigepflicht (§ 4 der Besonderen Bedingungen für die BUZ-Versicherung).“

Die Versicherungsnehmerin verweigerte die Unterzeichnung der umfassenden Ermächtigung und bot dem Versicherer an, einzelne Ermächtigungen zu unterzeichnen. Dies lehnte der Versicherer ab. Daraufhin legte die Versicherungsnehmerin Klage vor dem Landgericht ein und verlangte die Feststellung der Unzulässigkeit der Klausel sowie die Geltendmachung ihrer Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag.

Das Landgericht wies die Klage ab (LG Hannover, Urt. v. 28.03.2001 – 12 O 4091/00). Auch das Oberlandesgericht wies die Berufung der Versicherungsnehmerin zurück (OLG Celle, Urt. v. 28.02.2002 – 8 U 59/01). Dem folgte auch der BGH (BGH, Beschl. v. 02.10.2002 – IV ZR 111/02). Dagegen legte die Versicherungsnehmerin Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht ein.

Recht auf informationelle Selbstbestimmung

Das Bundesverfassungsgericht gab der Verfassungsbeschwerde überwiegend statt und rügte die vorangegangenen Urteile.

Grundsätzliche Anmerkungen

Zunächst stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch das Recht des Einzelnen umfasse, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten selbst zu bestimmen. Dabei sei der Staat verpflichtet, dieses Recht im Verhältnis zu Dritten zu ermöglichen. Der Einzelne könne seine Daten aber freiwillig gegenüber anderen offenbaren. Dies könne durch einen gegenseitigen Vertrag zum Ausdruck gebracht werden, den der Staat dann grundsätzlich zu respektieren habe.

Ein Verzicht solle aber nicht gelten, wenn eine einseitige Bestimmungsmacht eines Vertragspartners vorliege. Das sei besonders dann anzunehmen, wenn die durch den überlegenen Vertragspartner angebotene Leistung so eine erhebliche Bedeutung für die Sicherung der Lebendverhältnisse des anderen Vertragspartners habe, dass ein Abstand vom Vertrag für ihn unzumutbar sei. Eine weitere Voraussetzung sei, dass die Vertragsbedingungen, die für die Gewährleistung informationellen Selbstschutzes bedeutend seien, nicht verhandelbar seien.

Zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts müsse dann eine gerichtliche Überprüfung erfolgen, ob das Geheimhaltungsinteresse des schwächeren Teils dem Offenbarungsinteresse des stärkeren Teils angemessen zuzuordnen sei. Diesbezüglich müsse eine umfassende Abwägung erfolgen, ob eine umfassende vertragliche Obliegenheit zur Schweigepflichtentbindung gerechtfertigt sei.

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Erhebliches Verhandlungsungleichgewicht

Das Bundesverfassungsgericht erklärte zunächst, dass bei Vertragsschluss ein erhebliches Ungleichgewicht zwischen den Vertragsparteien bestanden habe. Die Versicherungsnehmerin hätte daher ihren informationellen Selbstschutz nicht eigenständig sicherstellen können. Ein Abstand vom Vertrag sei gerade bei der Natur der Berufsunfähigkeitsversicherung nicht zumutbar. Gleichwertige Alternativen zur Berufsunfähigkeitsversicherung seien nicht ersichtlich. Auch werde eine entsprechende Klausel von einer Vielzahl von Versicherern verwendet, so dass der Abschluss des Vertrags bei einem anderen Versicherer nicht als Alternative angesehen werden könne.

Aus diesem Grund liege eine angemessene Zuordnung des Geheimhaltungsinteresses gegenüber dem Offenbarungsinteresse nicht vor.

Sachdienlichkeit der Informationen

Das Bundesverfassungsgericht führte fort, dass die streitgegenständliche Klausel zu allgemein und weit gefasst sei. Die Versicherungsnehmerin müsse infolgedessen ihre Geheimhaltungsinteressen aus der Hand geben, da eine eigenständige Kontrolle nicht mehr gegeben sei. Auch der Zusatz der Sachdienlichkeit der einzuholenden Informationen würde den informationellen Selbstschutz nicht wiederherstellen. Es läge schon kein geeigneter Kontrollmechanismus zur Überprüfung der Sachdienlichkeit der Informationen vor. Der Versicherungsnehmerin sei es nicht möglich, im Vorfeld die Sachdienlichkeit jeder Information zu überprüfen.

Vertragliche Obliegenheit zur Schweigepflichtentbindung?

Die Versicherungsnehmerin könne bei Wirksamkeit der Klausel diese akzeptieren oder vom Versicherungsvertrag absehen. In diesem Ergebnis sehe das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtliche Bedenken. Es müsse überprüft werden, ob dem Ermittlungsinteresse des Versicherers nicht auch auf eine andere Weise genügt werden könne.

Zunächst könne der Versicherer der Versicherungsnehmerin im Voraus mitteilen, welche Informationen einzuholen seien, und so bestimmt Einzelermächtigungen einholen. Auch die Kosten dieser könne der Versicherer der Versicherungsnehmerin in gewissem Umfang auferlegen. Auch könne der Versicherer der Versicherungsnehmerin die Möglichkeit einräumen, die nötigen Informationen selbst zu beschaffen, oder zumindest eine Widerspruchsmöglichkeit einräumen. Grundsätzlich könne eine Schweigepflichtentbindung vertraglich beschlossen werden, der Versicherungsnehmerin müsse es aber möglich sein, auf Alternativen zurückzugreifen.

Im Grundsatz müsse der Versicherungsnehmerin das Recht, auf ihren informationellen Selbstschutz zu bestehen, eingeräumt werden. Das Bundesverfassungsgericht gelangte folglich zu dem Ergebnis, dass eine allgemeine vertragliche Obliegenheit zur Schweigepflichtentbindung im Hinblick auf den informationellen Selbstschutz in diesem Fall nicht bestehe.

Fazit zum Urteil des BVerfG

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts beantwortet grundlegend die Frage, ob eine umfassende vertragliche Obliegenheit zur Schweigepflichtentbindung besteht. Im Ergebnis verneint das diese, da eine umfassende Schweigepflichtentbindung den informationellen Selbstschutz zu stark einschränkt. Entsprechende Klauseln sind daher nur wirksam, wenn entsprechende Alternativen geboten werden.

Wirft der Versicherer dem Versicherten eine Obliegenheitsverletzung vor oder lehnt die vertraglich zugesicherten Leistungen ab, so empfiehlt es sich frühestmöglich fachanwaltliche Unterstützung im Leistungsprüfungsverfahren einholen, damit keine Ansprüche vereitelt werden. Ein Fachanwalt für Versicherungsrecht kann in Berufsunfähigkeitsverfahren mit kompetenter Unterstützung den Versicherten im Leistungsfall zur Seite stehen.

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Zum Autor: Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke

Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.

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