Im folgenden Artikel soll es um die Zulässigkeit einer von Berufsunfähigkeitsversicherern immer häufiger angewandte Regulierungspraxis gehen, nämlich um ein rückwirkend befristetes Anerkenntnis. Zum Verständnis ist aber zunächst eine kurze Einführung in die Erst- und Nachprüfung in der Berufsunfähigkeitsversicherung nötig.
Nach den Versicherungsbedingungen der Berufsunfähigkeitsversicherung liegt dann Berufsunfähigkeit vor, wenn die versicherte Person voraussichtlich dauerhaft nicht mehr in der Lage ist, ihren in zuletzt gesunden Tagen ausgeübten Beruf zu mindestens 50 % auszuüben. Ist die versicherte Person durchgängig für mindestens sechs Monate nicht in der Lage gewesen, ihren Beruf zu mindestens 50 % auszuüben, wird die Dauerhaftigkeit unwiderlegbar vermutet, sodass die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit eingetreten ist und ein unbefristetes Anerkenntnis der vertraglich vereinbarten Leistungen vom Versicherer geschuldet wird.
Nachdem der Versicherungsnehmer einen Leistungsantrag gestellt hat, prüft der Versicherer also im Rahmen der sogenannten Erstprüfung, ob die Leistungsvoraussetzungen vorliegen. Verneint der Versicherer das Vorliegen der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit, lehnt er die Leistungen aus dem Versicherungsvertrag – Rentenleistung und Beitragsbefreiung – ab. Will sich der Versicherungsnehmer gegen diese Leistungsablehnung zur Wehr setzen, trägt er in einem gerichtlichen Verfahren die volle Beweislast für alle Leistungsvoraussetzungen. Kurz gesagt: der Versicherungsnehmer muss beweisen, dass er berufsunfähig ist.
Stellt der Berufsunfähigkeitsversicherer im Rahmen der Leistungsprüfung jedoch fest, dass die versicherte Person tatsächlich für mindestens sechs Monate durchgängig nicht in der Lage war, ihren Beruf zu mindestens 50 % auszuüben, erklärt er ein unbefristetes Anerkenntnis. Von diesem unbefristeten Anerkenntnis kann sich der Versicherer dann nur durch die Durchführung eines sogenannten Nachprüfungsverfahrens wieder lösen. Hierbei prüft der Versicherer regelmäßig, ob die versicherte Person immer noch berufsunfähig ist. Stellt er in diesem Rahmen fest, dass die Voraussetzungen der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit entfallen sind, weil sich beispielsweise der Gesundheitszustand der versicherten Person deutlich gebessert hat oder die versicherte Person eine neue Tätigkeit ausübt, auf die der Versicherer sie verweisen darf, teilt der Versicherer dem Versicherungsnehmer mit, dass er die Leistungen in Zukunft einstellen wird.
Diese Einstellungsmitteilung unterliegt sehr strengen Anforderungen an Inhalt und Form. Verletzt die Einstellungsmitteilung diese Anforderungen, ist sie unwirksam mit der Folge, dass der Versicherer auch weiterhin die Leistungen aus dem Versicherungsvertrag erbringen muss. Dies kann dann nur durch ein neuerliches, ordnungsgemäßes Nachprüfungsverfahren des Versicherers geheilt werden. Hat der Versicherungsnehmer eine Einstellungsmitteilung erhalten, ist jedoch der Meinung, dass die Berufsunfähigkeit nach wie vor besteht, und will sich daher gegen die Leistungseinstellung zur Wehr setzen, steht ihm hierfür der Klageweg offen. In diesem gerichtlichen Verfahren trägt jetzt jedoch der Versicherer die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit entfallen sind. Kurz gesagt: nun muss der Versicherer beweisen, dass die versicherte Person nicht mehr berufsunfähig ist.
Zusammengefasst ist also festzustellen, dass sich die Rechtsposition des Versicherers deutlich verschlechtert, hat er einmal ein unbefristetes Anerkenntnis abgegeben.
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Nun zum eigentlichen Thema: Was passiert eigentlich, wenn der Versicherer im Rahmen der Erstprüfung feststellt, dass die versicherte Person in der Vergangenheit zwar bedingungsgemäß berufsunfähig geworden war, zum Zeitpunkt des Abschlusses der Leistungsprüfung die Berufsunfähigkeit aber bereits wieder entfallen ist? Hierzu der kurze folgende Beispielfall:
Der Versicherungsnehmer erkrankt im Januar 2021 an Krebs und muss die gesamte damit verbundene ärztliche Behandlung durchlaufen, sodass er für den Zeitraum der Behandlung unstreitig nicht mehr arbeiten kann. Er stellt daher einen Antrag auf Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung, woraufhin der Berufsunfähigkeitsversicherer mit der Erstprüfung beginnt. Hierbei stellt der Versicherer fest, dass der Versicherungsnehmer für die Dauer der achtmonatigen Krebsbehandlung nicht in der Lage war, seinen Beruf zu mindestens 50 % auszuüben, der Versicherungsnehmer also bedingungsgemäß berufsunfähig war. Zugleich stellt der Versicherer aber auch fest, dass die Krebsbehandlung angeschlagen hatte und der Versicherungsnehmer nach acht Monaten wieder gesund war, sodass er ab September 2021 seine berufliche Tätigkeit wieder vollumfänglich aufnehmen konnte. Als der Versicherer dies nach Abschluss der Leistungsprüfung feststellt, sind aber bereits zwölf Monate vergangen und wir befinden uns bereits im Januar 2022.
Von der Rechtsprechung wurde für diesen Fall die sogenannte „uno-actu-Entscheidung“ entwickelt. Demnach ist es dem Versicherer in der Berufsunfähigkeitsversicherung gestattet, die Leistungspflicht für einen bestimmten Zeitraum in der Vergangenheit anzuerkennen und sie für die Folgezeit zu verneinen, also Anerkenntnis und Nachprüfung zu verbinden (BGH, Urt. v. 19. 11. 1997 – IV ZR 6/97; OLG Saarbrücken, Urt. v. 8. 2. 2017 – 5 U 24/13), wenn der Versicherer der Ansicht ist, dass zum Zeitpunkt der Abgabe eines aufgrund zunächst nachgewiesener Berufsunfähigkeit gebotenen Anerkenntnisses die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit bereits wieder entfallen sei. Der Versicherer prüft somit das Vorliegen der Berufsunfähigkeit bezogen auf einen vergangenen Zeitpunkt, während der Versicherungsnehmer zum Zeitpunkt seiner Leistungsentscheidung nach Auffassung des Versicherers wieder gesundet ist.
In einem solchen Fall darf der Versicherer anerkennen und gleichzeitig „uno actu“ die Einstellung mitteilen. Anders als in den Fällen einer Befristung beruht ein solches Vorgehen allerdings nicht auf einer „Erstprüfung“, sondern auf einer „Nachprüfung“ mit der Folge, dass es dem Versicherer obliegt, den Wegfall der Voraussetzungen der Leistungspflicht nachzuweisen und einen eventuell vertraglich vereinbarten Nachleistungszeitraum – in der Regel drei Monate – zu beachten (vgl. OLG Saarbrücken, Urt. v. 8. 2. 2017 – 5 U 24/13). Im obigen Fall muss der Versicherer also, selbst wenn der Versicherungsnehmer tatsächlich nur acht Monate nicht in der Lage war, seinen Beruf auszuüben, bis April 2022 die vertraglich vereinbarten Leistungen erbringen.
Die uno-actu-Entscheidung hat entsprechend auch die gleichen rechtlichen Auswirkungen für den Versicherer wie ein normales Nachprüfungsverfahren. Wendet sich der Versicherungsnehmer also gegen die uno-actu-Entscheidung, trägt der Versicherer die volle Beweislast für das Entfallen der Berufsunfähigkeit und für die Wirksamkeit der Einstellungsmitteilung. Um dies zu umgehen und auch um Geld zu sparen, wenden die Berufsunfähigkeitsversicherer in einem Fall wie dem obigen vermehrt eine eigentlich unzulässige Regulierungspraxis an. Statt ein eigentlich gebotenes unbefristetes Anerkenntnis abzugeben und gleichzeitig die Leistungseinstellung zu erklären, beziehen sie sich darauf, dass sie nach § 173 Abs. 2 VVG berechtigt sind, einmalig ein zeitlich befristetes Anerkenntnis auszusprechen, und erklären ein sogenanntes „rückwirkend befristetes Anerkenntnis“ und teilen dem Versicherungsnehmer in etwa folgendes mit:
„Im Rahmen unserer Leistungsprüfung haben wir festgestellt, dass sie aufgrund ihrer Krebserkrankung von Januar 2021 bis August 2021 nicht in der Lage waren, ihren Beruf als … zu mindestens 50 % auszuüben. Zugleich haben wir aber auch festgestellt, dass die ärztliche Behandlung erfolgreich war und sie seit September 2021 ihrer beruflichen Tätigkeit wieder in vollem Umfang nachgehen. Nach den Versicherungsbedingungen und nach § 173 VVG sind wir berechtigt, einmalig ein befristetes Anerkenntnis auszusprechen. Hiervon machen wir vorliegend Gebrauch. Wir erbringen daher die vertraglich vereinbarten Leistungen für den Zeitraum von 01.02.2021 bis einschließlich zum 30.08.2021.“
In der Regel dürfte der Versicherungsnehmer sich freuen, dass der Berufsunfähigkeitsversicherer so unkompliziert Leistungen für die Dauer der Berufsunfähigkeit erbringt, und merkt dabei nicht, dass er vom Versicherer gerade ziemlich übervorteilt wurde, denn wie oben bereits geschildert hat der Versicherungsnehmer ja eigentlich einen vertraglichen Anspruch auf die Versicherungsleistungen bis einschließlich April 2022, mithin weitere acht Monate.
Derartige rückwirkend befristete Anerkenntnisse sind unzulässig und daher unwirksam. Ist ein befristetes Anerkenntnis unwirksam, wird es in ein unbefristetes Anerkenntnis umgedeutet mit der Folge, dass der Versicherer weiter leisten muss, bis er ein ordnungsgemäßes Nachprüfungsverfahren durchgeführt hat.
Grundsätzlich ist in den meisten Berufsunfähigkeitsversicherungsverträgen und in § 173 Abs. 2 VVG vorgesehen, dass der Versicherer im Rahmen der Leistungsprüfung einmalig für einen bestimmten Zeitraum – in der Regel bis zu zwölf Monate – ein befristetes Anerkenntnis aussprechen darf, wenn es hierfür einen sachlichen Grund gibt. Ein sachlicher Grund kann beispielsweise vorliegen, wenn die Leistungsprüfung nicht in einer vertretbaren und für den Versicherungsnehmer zumutbaren Zeit abgeschlossen werden kann oder eine zeitliche Prognose der Berufsunfähigkeit wegen einer möglicherweise erfolgversprechenden Rehabilitationsmaßnahme unklar ist. Bei einem befristeten Anerkenntnis gelten nach Ablauf der Befristung jedoch weiterhin die Grundsätze der Erstprüfung. Will der Versicherungsnehmer also auch über die Befristung hinaus Leistungen aus dem Versicherungsvertrag geltend machen, muss immer noch er beweisen, dass er berufsunfähig ist.
Es erscheint daher zunächst nicht abwegig, dass der Berufsunfähigkeitsversicherer auch für einen bereits abgeschlossenen Zeitraum ein befristetes Anerkenntnis erklären darf, wenn er meint, dass die einmal eingetretene Berufsunfähigkeit zum Zeitpunkt der Leistungsentscheidung bereits wieder entfallen ist. Dies ist auch das Hauptargument der Versicherer. Wenn der Versicherer bei einer unsicheren Prognose der Berufsunfähigkeit ein befristetes Anerkenntnis aussprechen darf, so muss ihm dies doch erst recht möglich sein, wenn er bereits weiß, dass die einmal eingetretene bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit bereits wieder entfallen ist.
Hierbei verkennen sie jedoch, dass die gesetzliche Regelung des § 173 Abs. 2 VVG nur solche Befristungen betrifft, die sich in die Zukunft erstrecken, da ein zeitlich befristetes Anerkenntnis ein Element der Ungewissheit über den Eintritt des Versicherungsfalles und die Leistungspflicht des Versicherers, wie beispielsweise eine Ungewissheit hinsichtlich der tatsächlichen gesundheitlichen Unfähigkeit zur Fortführung des letzten Berufs oder einer eventuell möglichen Verweisung, voraussetzt. Für in der Vergangenheit abgeschlossene Zeiträume soll die Regelung des § 173 Abs. 2 VVG gerade nicht gelten. Dies wird durch die Regierungsbegründung zum Entwurf des Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrecht vom 20.12.2006 (BT-Drucksache 16/3945 S. 105f.) deutlich. Dort heißt es zu § 173 VVG:
„Der Versicherer darf sein Anerkenntnis zeitlich begrenzen. Die Praxis hat gezeigt, dass aus der Sicht beider Vertragsparteien ein Bedürfnis besteht, in zweifelhaften Fällen bis zu einer abschließenden Klärung zunächst eine vorläufige Entscheidung zu ermöglichen. Dies gilt insbesondere auch für den Fall, dass sich der Versicherer die Prüfung vorbehalten möchte, ob sich der Versicherungsnehmer auf eine andere Tätigkeit verweisen lassen muss.“
Bei einem rückwirkend befristeten Anerkenntnis handelt es sich aber gerade nicht um eine vorläufige Regelung bis zu einer abschließenden Klärung. In einem Fall wie dem obigen fehlt es an einem Element der Ungewissheit, da der Versicherer seine Leistungsprüfung mit einem endgültigen und eindeutigen Ergebnis ja bereits abgeschlossen hat.
Die Versicherer ignorieren darüber hinaus auch die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (u.a. BGH, Urteil vom 11.12.1996 – IV ZR 238/95; BGH, Urteil vom 27.09.1989 – IVa ZR 132/88), wonach bei Vorliegen der bedingungsgemäßen Leistungsvoraussetzungen ein unbefristetes Anerkenntnis geboten ist. Zwar hat sich der Bundesgerichtshof bislang noch nicht direkt mit der Wirksamkeit von rückwirkend befristeten Anerkenntnissen befasst allerdings zumindest bereits indirekt. In seinem Hinweisbeschluss vom 13.03.2019 – IV ZR 124/18 stellte der Bundesgerichtshof fest, dass im Falle einer „uno actu“-Leistungsentscheidung eine rückwirkende Wirksamkeit der Einstellungsmitteilung nur in dem besonderen Ausnahmefall gegeben ist, wenn der Versicherungsnehmer die Berufsunfähigkeit erst zu einem Zeitpunkt anzeigt und geltend macht, zudem die Berufsunfähigkeit bereits wieder entfallen ist, und so gegebenenfalls die Leistungspflicht des Versicherers durch sein eigenes Verhalten verlängern würde. Wenn eine solche rückwirkende Leistungseinstellung aber nur in diesem besonderen Ausnahmefall möglich ist, bedeutet das ja im Umkehrschluss, dass eine rückwirkende Leistungseinstellung im Regelfall gerade nicht möglich sein soll.
Wie Sie sehen, ist es daher dringend anzuraten, sofern Sie als Versicherungsnehmer ein befristetes Anerkenntnis oder eine Leistungseinstellung erhalten sollten, dies von einem auf das Versicherungsrecht spezialisierten Rechtsanwalt prüfen zu lassen, denn oftmals steht Ihnen mehr zu, als der Versicherer zunächst zu leisten bereit ist. Hierbei ist die Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte gern Ihr Ansprechpartner und steht Ihnen jederzeit gern unterstützend zur Seite. Die Kanzlei blickt auf eine Vielzahl von Berufsunfähigkeitsfällen zurück und kann Ihnen mit Erfahrung und Kompetenz dienen.
Weitere Informationen finde Sie unter „Versicherungsrecht„, sowie „Berufsunfähigkeitsversicherung„.
Rechtsanwalt Bernhard Gramlich ist seit 2019 angestellter Anwalt der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2020 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Als Rechtsanwalt hat er bereits einer Vielzahl von Versicherungsnehmern bei der Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber Versicherern geholfen.
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