Die Einführung der Pflegegrade in der Pflegeversicherung (BGH)

Der BGH hatte mit der Entscheidung vom 20. August 2025 (Az. IV ZR 164/23) zu entscheiden, ob nach Einführung der Pflegegrade eine Vertragsanpassung vorzunehmen ist oder direkt Leistungen aus der Pflegeversicherung geltend gemacht werden können.

Streit über Pflegestufen und Pflegegrade

Ein Versicherungsnehmer schloss im Jahr 2011 eine Existenzschutzversicherung ab. Laut den Versicherungsbedingungen sollte er eine Pflegerente erhalten, wenn er in eine der Pflegestufen I bis III eingestuft werden würde. Mit der Pflegereform zum 1. Januar 2017 wurden die Pflegestufen jedoch durch die neuen Pflegegrade 1 bis 5 ersetzt. Eine Vertragsanpassung nach Einführung der Pflegegrade wurde seitens des Versicherers jedoch nicht vorgenommen.

Nachdem der Versicherungsnehmer im November 2017 in den Pflegegrad 2 eingestuft worden war, verlangte er die vereinbarte Pflegerente. Der Versicherer lehnte die Zahlung mit der Begründung ab, dass der Pflegegrad 2 nicht automatisch einer früheren Pflegestufe entspreche.

Das Landgericht Frankfurt am Main (Az. 2-23 O 177/20) gab der Klage mit Urteil vom 8. Januar 2021 weitgehend statt. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Az. 3 U 26/21) hob die erstinstanzliche Entscheidung auf und wies die Klage ab. Sodann hatte sich der BGH mit dem Fall zu befassen.

Keine automatische Gleichsetzung von Pflegegrad und Pflegestufe

Der BGH machte klar, dass eine pauschale Gleichsetzung von Pflegegrad 2 und Pflegestufe I nicht zulässig sei. Grund hierfür sei, dass der Begriff der Pflegebedürftigkeit erheblich ausgeweitet wurde. In der heutigen Zeit könnten auch kognitive, kommunikative und psychische Einschränkungen eine Einstufung in Pflegegrad 2 begründen, die nach alter Rechtslage nicht für eine Pflegestufe ausgereicht haben. Eine automatische Übertragung dieser Art würde daher den Vertragsgegenstand unzulässigerweise erweitern und das Risiko für den Versicherer deutlich vergrößern.

Planwidrige Lücke in Altverträgen nach Einführung der Pflegegrade

Der BGH stellte klar, dass die Pflegereform zu einer planwidrigen Regelungslücke geführt habe. Mit dem Wegfall der Pflegestufen sei laut dem BGH der Bezugspunkt entfallen, ohne dass die Versicherungsbedingungen angepasst worden seien. Eine dynamische Verweisung auf den jeweils aktuellen Pflegebedürftigkeitsbegriff enthielten die Versicherungsbedingungen nicht.

Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer in der Pflegeversicherung dürfe jedoch erwarten, dass die Leistungspflicht des Versicherers auch nach Umstellung von Pflegestufen auf Pflegegrade bestehen bleibt. Wenn nunmehr nur noch Pflegegrade vergeben würden, dürfe das Leistungsversprechen nicht vollständig leerlaufen. Ohne eine Ergänzung der Bedingungen würde die Pflegerenten-Zusage leerlaufen. Daher liegt eine auszufüllende Vertragslücke vor.

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Abgrenzung zwischen Vertragsauslegung und Vertragsanpassung

Der BGH betonte, dass zunächst eine ergänzende Vertragsauslegung des bestehenden Versicherungsvertrags und erst nachrangig eine Vertragsanpassung in Betracht komme.

Bei der ergänzenden Vertragsauslegung wird untersucht, wie die Parteien den Vertrag bei Einführung der Pflegegrade redlicherweise ausgestaltet hätten, wenn sie die Gesetzesänderung vorausgesehen hätten. Der Maßstab ist damit der hypothetische Parteiwille. Der Vertragsinhalt wird somit nicht neugestaltet, sondern lediglich fortgeschrieben.

Eine Vertragsanpassung komme hingegen erst dann in Betracht, wenn die vertragliche Grundlage durch die Einführung der Pflegegrade so schwerwiegend gestört ist, dass ein Festhalten am unveränderten Vertrag für eine Partei unzumutbar wäre. Hierbei wird der Vertrag nicht nur ergänzt, sondern inhaltlich neu gefasst, um ein unzumutbares Ungleichgewicht zu vermeiden. Die Vertragsanpassung setzt somit eine umfassende Interessenabwägung voraus und darf erst eingreifen, wenn eine ergänzende Vertragsauslegung nicht mehr ausreicht.

Zwischen ergänzender Vertragsauslegung und Vertragsanpassung ist also eine Prüfungsreihenfolge einzuhalten. Entscheidend sei, ob die Vertragslücke noch im Wege einer interessengerechten Auslegung geschlossen werden kann oder ob bereits eine so schwerwiegende Veränderung vorliegt, dass der Vertrag in seiner bisherigen Form nicht mehr passt. Der BGH wies den Fall daher zur Klärung der vorgenannten Frage an das Berufungsgericht zurück.

Fazit

Mit seiner Entscheidung macht der BGH deutlich, dass die Pflegereform 2017 zu einer rechtlichen Lücke in vielen Altverträgen der Pflegeversicherung geführt hat. Durch die Einführung der Pflegegrade kommt es jedoch nicht zu einem ersatzlosen Wegfall von Leistungsansprüchen, sondern die eingetretene Lücke ist durch eine ergänzende Vertragsauslegung und gegebenenfalls eine Vertragsanpassung zu schließen.

Lehnt ein Versicherer die Zahlung von Leistungen aus einer Existenzschutzversicherung ab, kann es also sinnvoll sein, einen auf Versicherungsrecht spezialisierten Rechtsanwalt zu kontaktieren. Dieser kann die genauen Umstände fachlich prüfen und beurteilen, ob die Leistungsablehnung rechtmäßig war. Auch die Rechtsanwälte von Jöhnke & Reichow stehen hierfür gerne zur Verfügung.

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Zum Autor: Rechtsanwalt Jens Reichow

Rechtsanwalt Reichow ist Partner der Hamburger Kanzlei Jöhnke & Reichow. Er betreut vor Allem Verfahren im Versicherungsrecht, zur Haftung von Versicherungsvermittlern und Streitigkeiten aus dem Handelsvertreterrecht. Nähere Angaben zu Jens Reichow finden Sie unter folgendem Anwaltsprofil:

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