Mit der Frage, wann der Beginn der Rücktrittsfrist im Falle einer vorvertraglichen Anzeigepflichtverletzung vorliegt, hatte sich das OLG Karlsruhe auseinanderzusetzen (OLG Karlsruhe, Urt. v. 06.12.1990 – 12 U 168/90).
Streitgegenständlich war ein Lebensversicherungsvertrag, welcher ungefähr ein Jahr vor Eintritt des Versicherungsfalls geschlossen worden war. Sodann stellte sich heraus, dass bereits vor Abgabe des Versicherungsantrags Arztbesuche der Versicherungsnehmerin wegen Sensibilitätsstörungen im ganzen Körper, welche vom Arm ausgingen, stattgefunden hatten. Zwar gab es keine Mitteilung der Diagnose, nämlich des Vorliegens eines Hirntumors, allerdings die Mitteilung über „zusätzliche Strukturen“ im Gehirn der Versicherungsnehmerin. Diese teilte vor Abschluss gegenüber einem dem Versicherer zuzurechnenden Versicherungsagenten lediglich mit, dass sie sich in stationärer Behandlung in einer Neurologischen Klinik eingefunden hatte, gab allerdings an, dass die Behandlung ohne Befund beendet worden war, obwohl tatsächlich ein Befund vorlag.
Generell hat der Versicherungsnehmer vor Vertragsschluss alle ihm bekannten, für den Vertragsschluss aus Sicht des Versicherers erheblichen Gefahrumstände anzugeben, nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat (siehe auch: Die vorvertragliche Anzeigepflicht). Fragt der Versicherer nicht nach einer vorliegenden Erkrankung, ist diese nur ausnahmsweise anzugeben (siehe dazu: Die spontane Anzeigeobliegenheit).
Gibt der Versicherungsnehmer vorsätzlich oder grob fahrlässig erhebliche Gefahrumstände nicht an, kann der Versicherer vom Vertrag zurücktreten (siehe auch: Der Rücktritt des Versicherers). Vorsatz besteht, wenn der Versicherungsnehmer nicht nur wusste, dass er Gefahrumstände nicht angibt, sondern dies auch wollte. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Versicherungsnehmer entgegen dessen handelt, was sich jeder verständigen Person in dieser Situation unbedingt aufgedrängt hätte.
Im vorliegenden Fall erachtete das OLG Karlsruhe die Angaben der Versicherungsnehmerin gegenüber dem Versicherungsagenten als nicht ausreichend, um der eigenen vorvertraglichen Anzeigepflicht nachzukommen. Der Versicherer habe ausdrücklich wegen Beschwerden und Störungen nachgefragt. Die Angabe eines Besuchs einer Neurologischen Klinik sei nicht mit einer Angabe von Beschwerden gleichzusetzen. Vielmehr hätte die Versicherungsnehmerin stattdessen die vom Arm ausgehenden, im ganzen Körper vorhandenen Sensibilitätsstörungen angeben müssen, um Ihrer Anzeigepflicht nachzukommen.
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Erhält der Versicherer – bzw. ein ihm zuzurechnender Versicherungsagent – Kenntnis von der vorvertraglichen Anzeigepflichtverletzung, beginnt der Lauf einer einmonatigen Frist, in welcher der Rücktritt erklärt werden muss. Der BGH hat diesbezüglich ausgeführt, dass es für die Annahme einer Kenntnis ausreichend ist, wenn sich das dem Versicherer vorliegende Tatsachenmaterial derart verdichtet hat, dass er die Möglichkeit eines Rücktrittsgrunds, mithin die vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung ernsthaft in Erwägung ziehen muss (siehe dazu: Rücktritt aus Verdachtsgründen durch Berufsunfähigkeitsversicherung (BGH) und Beeinflussung der Rücktrittsfrist durch Versicherer? (BGH)). Dies dürfte grundsätzlich der Fall sein, wenn eine bloß einfache Nachforschung zum Ausräumen der Zweifel und zur Klärung des Sachverhalts bis zum positiven Wissen, ob ein erheblicher Gefahrumstand vor Vertragsschluss verschwiegen wurde, also ein Rücktrittsgrund besteht, notwendig ist.
Dies hat das OLG Karlsruhe für die Mitteilung einer längeren Behandlung in einer Neurologischen Klinik in diesem Einzelfall verneint, da die Versicherungsnehmerin selbst angab, dass diese ohne Befund beendet worden sei. Eine einfache Nachforschung – z. B. eine Nachfrage bei der behandelnden Klinik – hätte nach Vorstellung des Versicherers ohne vorliegenden Befund kein Ergebnis gebracht. Mithin war nach Dafürhalten des OLG Karlsruhe der Verdacht einer vorvertraglichen Anzeigepflichtverletzung noch nicht derart konkretisiert, dass eine ausreichende Kenntnis, um die Rücktrittsfrist in Gang zu setzen, vorlag.
Durch das vorliegende Urteil knüpft das OLG Karlsruhe an die vom BGH formulierte Rechtsprechungslinie an. Nur rein aus Verdachtsgründen muss der Versicherer den Rücktritt nicht erklären. Vielmehr muss sich der Verdacht bereits derart erhärtet haben, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass der Versicherungsnehmer eine vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung begangen hat und dem Versicherer daher ein Rücktrittsrecht tatsächlich zusteht. Dieser stark erhärtete Verdacht muss sodann durch eine relativ wenig intensive Nachforschung vollends geklärt werden können.
Trotzdem birgt die Rechtsprechungslinie „Zündstoff“, da die Feststellung eines derart verhärteten Verdachts in der Praxis aus der Perspektive der Handelnden nicht immer leicht von der Hand gehen wird. Daher ist davon auszugehen, dass Versicherer eher früher als später den Rücktritt erklären, wenn die Frist laufen könnte, und erst anschließend weitere Nachforschungen anstrengen. In diesem Fall kann es ratsam sein, sich Unterstützung durch einen im Versicherungsrecht, insbesondere im Bereich der Berufsunfähigkeitsversicherungen spezialisierten Rechtsanwalt „ins Boot“ zu holen.
Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.
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