Das Oberlandesgericht Karlsruhe entschied, dass ein vereinbarter Leistungsausschluss für Geistes- und Bewusstseinsstörungen in der Unfallversicherung auch Fälle einbezieht, in denen die versicherte Person nicht in ihrer Aufnahme- oder Reaktionsfähigkeit gestört ist, aber infolge einer Depression nicht in der Lage ist, ihre Handlungen rational zu steuern (OLG Karlsruhe, Urt. v. 16.05.2024 – 12 U 175/23).
Im Fall vor dem OLG Karlsruhe begehrte eine Mutter Leistungen aus einer privaten Unfallversicherung, die sie beim Versicherer für ihren Sohn abgeschlossen hatte. In den Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB), wird der Versicherungsschutz jedoch für Unfälle „durch Geistes- oder Bewusstseinsstörungen, auch soweit diese auf Trunkenheit beruhen, sowie (…) epileptische Anfälle“ ausgeschlossen.
Der Sohn der Versicherungsnehmerin litt an einer Angststörung und Depressionen. Er sprang in Suizidabsicht aus dem Fenster seines Zimmers, wobei er sich Frakturen an beiden Beinen sowie der Wirbelsäule zuzog.
Die Versicherungsnehmerin meldete den Unfall beim Versicherer. Jedoch lehnte diese die Zahlung einer Invaliditätsleistung ab. Begründet wurde diese Entscheidung damit, dass es an der Unfreiwilligkeit des Unfallereignisses fehle.
Die Versicherungsnehmerin begehrte zunächst vor dem Landgericht Baden-Baden die Zahlung der Invaliditätsleistung in Höhe von 36.200 Euro bei einem angenommen Invaliditätsgrad von 33,5 Prozent. Das LG Baden-Baden wies die Klage jedoch ab, da der Leistungsausschluss für Geistes- und Bewusstseinsstörungen greife. Der Sohn der Versicherungsnehmerin habe zum Zeitpunkt des Suizidversuchs aufgrund seiner psychischen Erkrankung einem Zwang unterlegen und nicht frei handeln können.
Die Versicherungsnehmerin legte gegen diese Entscheidung vor dem OLG Karlsruhe Berufung ein. Sie beruft sich weiterhin auf das Vorliegen eines bedingungsgemäßen Unfallgeschehens. Der Versicherungsausschluss für Geistes- und Bewusstseinsstörung setze nach ihrer Ansicht ein Wahrnehmungsdefizit voraus. Ihr Sohn habe seine Umwelt aber zutreffend wahrgenommen und nur im Rahmen der Willensbildung durch seine Erkrankung bedingt auf Grund tatsächlich vorhandener negativer Umwelteinflüsse den Suizid als einzig gangbare und vernünftige Lösung angesehen.
Der Versicherer hingegen verteidigt die Entscheidung des LG Baden-Baden und sieht in dem Suizidversuch eine leistungsausschießende Geistes- und Bewusstseinsstörung.
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Die Versicherungsnehmerin hatte auch vor dem OLG Karlsruhe keinen Erfolg. Dem OLG Karlsruhe zufolge griff auch indem vorliegenden Fall der Leistungsausschluss für Geistes- und Bewusstseinsstörungen, sodass kein Anspruch auf Zahlung einer Invaliditätsleistung besteht. Es habe zwar ein Unfall vorgelegen, jedoch ist eine Depression, die die freie Willensbestimmung hinsichtlich des Suizids ausschließt, als Geistes- und Bewusstseinsstörungen einzustufen.
Ein Unfallereignis setzt zunächst voraus, dass die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. Bei einem Suizidversuch gilt insofern, dass, falls die Entscheidung zum Suizid in einem Zustand erfolgt ist, in dem der versicherten Person eine freie Willensbestimmung noch möglich war, auch die hierbei erlittenen Verletzungen als freiwillig verursacht anzusehen sind. Eine solche freiwillige Verursachung setzt jedoch die Möglichkeit der freien Willensbildung bei der versicherten Person voraus. Sollte der Sohn der Versicherungsnehmerin sich auf Grund der psychischen Erkrankung in einem Zustand befunden haben, in welchem eine freie Willensbildung ausgeschlossen war, wäre die Voraussetzung einer unfreiwillig erlittenen Gesundheitsschädigung erfüllt. Da der Sohn der Versicherungsnehmerin jedoch nicht in der Lage, seine Handlungen rational zu steuern, lag jedenfalls eine unfreiwillige Gesundheitsbeschädigung vor.
Eine Depression, welche die freie Willensbestimmung im Hinblick auf den Suizid ausschließt, ist jedoch nach Auffassung des OLG Karlsruhe als Geistes- oder Bewusstseinsstörung anzusehen.
Der Sinn der Ausschlussklausel liegt ersichtlich darin, vom Versicherungsschutz solche Unfälle auszunehmen, die sich als Folge einer schon vor dem Unfall vorhandenen – gefahrerhöhenden – gesundheitlichen Beeinträchtigung beim Versicherten darstellen. Eine Bewusstseinsstörung im Sinne der Klausel setzt danach nicht den Eintritt völliger Bewusstlosigkeit voraus. Vielmehr genügen solche gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit des Versicherten, die die gebotene und erforderliche Reaktion auf die vorhandene Gefahrenlage nicht mehr zulassen, die also den Versicherten außerstande setzen, den Sicherheitsanforderungen seiner Umwelt zu genügen (siehe auch BGH, Beschl. v. 24.09.2008 – IV ZR 219/07). Eine solche Störung liegt mithin dann vor, wenn die dem Versicherten bei normaler Verfassung innewohnende Fähigkeit, Sinneseindrücke schnell und genau zu erfassen, sie geistig zu verarbeiten und auf sie angemessen zu reagieren, ernstlich beeinträchtigt ist. Dies muss dazu führen, dass die Gefahrenlage nicht mehr beherrscht werden kann (siehe auch OLG Karlsruhe, Urt. v. 23.02.2018 – 12 U 111/17).
Vor diesem Hintergrund greift der Leistungsausschluss für Geistes- und Bewusstseinsstörungen auch bei einer Angststörung und Depressionen, sodass der Anspruch auf eine Invaliditätsleistung damit ausgeschlossen ist.
Der Fall vor dem OLG Karlsruhe verdeutlicht die Bedeutung von Ausschlussklauseln für den Versicherungsschutz. Insbesondere Bewusstseins- und Geistesstörungen spielen immer wieder eine Rolle in juristischen Auseinandersetzungen. So hatte beispielsweise das OLG Dresden über den Leistungsausschluss für Bewusstseinsstörungen wegen alkoholtypischem Fahrfehler zu entscheiden. Oftmals geht es dabei auch um den Leistungsanspruch für die psychischen Folgen eines Unfallereignisses (siehe hierzu OLG Koblenz: Berücksichtigung psychischer Beeinträchtigungen für Invaliditätsgrad und OLG Frankfurt: Leistungsausschluss bei psychischen Unfallfolgen).
Ob tatsächlich ein Leistungsausschluss greift, hängt dabei jedoch stets vom Einzelfall ab. Daher empfiehlt es sich, bei Fragen oder rechtlichen Problemen die Beratung eines im Versicherungsrecht spezialisierten Rechtsanwalts in Anspruch zu nehmen. Gerne stehen hierfür auch Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte zur Verfügung.
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