Das OLG Frankfurt hatte sich mit der Frage der Kostenerstattung für eine orthomolekulare Therapie zu befassen. Konkret begehrte der Versicherungsnehmer die Erstattung der Kosten von Vitaminen und Nahrungsergänzungsmitteln, die er im Rahmen dieser Therapie einnahm (Urt. v. 20.12.2018 – 7 U 103/16).
Der Versicherungsnehmer begehrte Leistungen aus seiner privaten Krankenversicherung. Er litt an einer multiplen Chemikalienempfindlichkeit (MCS). Dabei handelt es sich um eine anerkannte Multisystemerkrankung. Der Versicherungsnehmer reagiert auf chemische Stoffe mit einem chronischen Entzündungsgeschehen, wobei verschiedene Organsysteme erfasst sind. Dabei treten unter anderem persistierende Schmerzattacken in den Beinen auf. Außerdem ist der Versicherungsnehmer an Diabetes Typ 2 erkrankt.
Wegen seines polyneuropathischen Schmerzgeschehens ist er in einem Schmerzzentrum in Behandlung. Zusätzlich führt der Versicherungsnehmer eine orthomolekulare Therapie durch, im Rahmen derer er unter anderem die streitgegenständlichen Vitamin- und Nahrungsergänzungspräparate zu sich nimmt. Der Versicherer erstattete zwei der Präparate. Einen Antrag des Versicherungsnehmers auf Kostenerstattung für die restlichen Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel lehnte der Versicherer jedoch ab. Es fehle nach seinem Dafürhalten bereits an einem medizinisch nachvollziehbaren Ansatz, der die Wirkungsweise der Methode erklären könne. Außerdem würden die Präparate auch unter den Ausschluss für Nährmittel fallen.
Der Versicherungsnehmer begehrte zunächst vor dem Landgericht Frankfurt die Kostenerstattung für eine orthomolekulare Therapie (Az.: 23 O 456/15). Er behauptete, durch die Langzeit-Einnahme der verordneten Medikamente sei aufgrund der anti-entzündlichen und stabilisierenden Wirkung ein deutlicher Rückgang der entzündlichen Prozesse eingetreten. Bei einem Absetzen der Therapie würde eine Intensivierung der Schmerzbehandlung erforderlich werden, die mit einer häufigeren stationären Behandlung einhergehen würde. Es handele sich bei der orthomolekularen Therapie um die derzeit einzige Möglichkeit, eine Linderung der Krankheitssymptome zu erreichen. Insbesondere sei ein entsprechender schulmedizinischer Behandlungsansatz nicht vorhanden. Die zur orthomolekularen Therapie gehörende zusätzliche Gabe von Vitaminen und sonstigen Präparaten stelle keine Nahrungsergänzung dar, sondern sei essentieller Bestandteil der Therapie.
Das LG Frankfurt wies die Klage des Versicherungsnehmers dennoch ab. Die Präparate seien nicht erforderlich, um schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden. Bei dem Absetzen der Präparate sei nicht mit schweren gesundheitlichen Schäden zu rechnen. Hiergegen wendete sich die Berufung des Versicherungsnehmers vor dem Oberlandesgericht Frankfurt.
Das OLG Frankfurt entschied, dass es sich bei den streitgegenständlichen Vitaminen und Nahrungsergänzungsmitteln um Aufwendungen für die medizinisch notwendige Heilbehandlung des Versicherungsnehmers handelt. Nach den vereinbarten Versicherungsbedingungen (AVB) ist der Versicherer zum Ersatz der Aufwendungen verpflichtet.
Die multiple Chemikalienempfindlichkeit ist als Multisystemerkrankung anerkannt. Dies hat ein chronisches Entzündungsgeschehen in verschiedenen Organsystemen sowie unspezifische, zum Teil sehr belastende Symptome und Schmerzen zur Folge. Es handelt sich weder um eine behandlungsbedürftige seelische Störung noch um eine typische Allergie. Unabhängig davon ist der Versicherungsnehmer an Diabetes Typ 2 erkrankt.
Das OLG Frankfurt erklärte, dass zur Behandlung des Krankheitsbildes des Versicherungsnehmers keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stehen. Die Schulmedizin bietet lediglich eine symptombezogene Behandlung in Gestalt zum Beispiel einer Schmerztherapie oder einer Verhaltenstherapie. Das hier zur Beurteilung stehende Behandlungskonzept verfolgt hingegen einen weitergehenden Ansatz, indem es über eine bloße Linderung der Symptome hinausgeht.
Da keine schuldmedizinische Behandlungsmaßnahme zur Verfügung steht, sind auch alternative Heilbehandlungen als medizinische notwendige Heilbehandlung anzusehen, sofern diese Aussicht auf Erfolg oder Linderung versprechen (siehe hierzu OLG Frankfurt: Kostenerstattung bei einer dendritischen Zellbehandlung und LG Nürnberg-Fürth: Medizinische Notwendigkeit einer HIFU-Behandlung). Somit dufte hier auf die orthomolekulare Therapie zurückgegriffen werden.
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Das OLG Frankfurt ging auch davon aus, dass die orthomolekulare Therapie medizinisch notwendig war. Für die Frage, ob eine Heilbehandlung medizinisch notwendig ist, ist ein objektiver Maßstab anzulegen. So kommt es für die Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit der Heilbehandlung weder auf die Auffassung des Versicherungsnehmers noch auf die des behandelnden Arztes an. Vielmehr ist die Behandlung dann notwendig, wenn es nach den objektiven medizinischen Befunden und Erkenntnissen im Zeitpunkt der Vornahme der ärztlichen Behandlung vertretbar war, sie als notwendig anzusehen (siehe hierzu BGH: Erfolgsaussichten einer Behandlung bei unheilbaren Krankheiten).
Bei der Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit einer Heilbehandlung können auch solche medizinischen Erkenntnisse berücksichtigt werden, die sich im Bereich der sogenannten alternativen Medizin ergeben haben oder sich als das Ergebnis der Anwendung von sogenannten Außenseitermethoden darstellen. Von der medizinischen Notwendigkeit einer Behandlung in diesem Sinne wird daher im Allgemeinen auszugehen sein, wenn eine Behandlungsmethode zur Verfügung steht und angewandt worden ist, die geeignet ist, die Krankheit zu heilen, zu lindern oder ihrer Verschlimmerung entgegenzuwirken. Steht diese Eignung nach medizinischen Erkenntnissen fest, ist grundsätzlich auch von einer Eintrittspflicht des Versicherers auszugehen (siehe hierzu OLG Celle: Erstattung der Heilbehandlungskosten bei einem Zungenkarzinom).
Die orthomolekulare Therapie beruht auf einem medizinisch nachvollziehbaren Ansatz. Es wurde ein speziell auf die Krankheit des Versicherungsnehmers abgestimmte Wirkstoffkombination zusammengestellt. Dabei wurden nicht alle Substanzen auf einmal angewendet. Stattdessen erfolgte die Gabe nacheinander und in Abhängigkeit von der Entwicklung der entsprechenden Werte des Versicherungsnehmers. Durch die Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel wurden oxidative Vorgänge im Körper, die den Energiegewinnungsprozess stören, vermieden. Ein solcher individuell abgestimmter Vitamin- und Nährstoffcocktail führt nachweislich zu dem gewünschten Sinken der Entzündungswerte und zu einer Verbesserung des Energiestoffwechsels. Die hier verabreichten Präparate wirkten insgesamt entzündungshemmend und antioxidativ. Zudem stabilisierten sie das Immunsystem.
Der in den Bedingungen enthaltene Ausschlusstatbestand, nach dem Aufwendungen für Nähr- und Stärkungsmittel nicht erstattungsfähig sind, greift vorliegend nicht ein. Nährmittel sind nämlich Stoffe, die zum Verzehr durch den Menschen bestimmt sind, sofern sie nicht zu anderen Zwecken als zur Ernährung oder zum Genuss verzehrt werden. Bei Produkten, die sowohl Ernährungs- als auch therapeutischen Zwecken dienen, ist die überwiegende Zweckbestimmung maßgeblich.
Hier wurden die Vitaminpräparate sowie die Nahrungsergänzungsmittel verordnet, um die beschriebene Therapiewirkung herbeizuführen. Bei diesen Wirkstoffen handelt es sich damit um medikamentenähnliche Nährmittel, die gemäß der AVB als Arzneimittel gelten. Mangels anderweitiger Behandlungsmethoden sind sie zudem zwingend erforderlich, um schwere gesundheitliche Schäden vom Versicherungsnehmer abzuwenden. Der Versicherungsnehmer leidet infolge der vielfachen entzündlichen Prozesse an starken Schmerzen, die ohne die orthomolekulare Therapie mit einer weitergehenderen Schmerztherapie behandelt werden müssten, ohne dass dadurch allerdings die Ursache der Erkrankung therapiert würde. Vor diesem Hintergrund stand dem Versicherungsnehmer ein Erstattungsanspruch für die Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel zu.
Die vorliegende Entscheidung des OLG Frankfurt zeigt, dass Versicherer auch eine Erstattungspflicht für Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel treffen kann, welche im Rahmen einer orthomolekularen Therapie eingenommen werden. Zudem bleibt festzuhalten, dass Versicherungsnehmer auch für alternativmedizinische Behandlungsmethoden Versicherungsschutz verlangen können, wenn schuldmedizinische Behandlungen nicht den gewünschten Erfolg versprechen. Gleichwohl kommt es bei der Bewertung der medizinischen Notwendigkeit regelmäßig auf die konkreten Umstände des Einzelfalles an. Daher kann es sich empfehlen, eine Leistungsablehnung des Versicherers durch einen im Versicherungsrecht spezialisierten Rechtsanwalt prüfen zu lassen. Gerne stehen dafür Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte zur Verfügung.
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