Das OLG Hamm hatte über die medizinische Notwendigkeit von neun Kinderwunschbehandlungen und damit über die Kostenerstattung nach einer künstlichen Befruchtung zu entscheiden (Urt. v. 11.11.2016 – 20 U 119/16).
Vorliegend machte die Versicherungsnehmerin Ansprüche aus ihrer privaten Krankenvollversicherung auf Kostenerstattung nach einer künstlichen Befruchtung geltend. Insgesamt verlangte sie die Erstattung von Kosten für neun fehlgeschlagene Kinderwunschbehandlungen.
Der Partner der Versicherungsnehmer weist eine andrologische Fertilitätsstörung auf. Sie sind nicht verheiratet. Der Kinderwunsch des Paares blieb unerfüllt, weshalb sie sich entschieden, eine künstliche Befruchtung durchzuführen. Hierfür stellte die Versicherungsnehmerin zunächst mündlich einen Antrag auf Kostenübernahme beim Versicherer. Der Versicherer lehnte diesen ab. Er begründete dies damit, dass die Versicherungsnehmerin und ihr Partner nicht verheiratet seien.
Die Versicherungsnehmerin unterzog sich dennoch mehreren In-Vitro-Fertilisationen (IVF) kombiniert mit intracytoplasmatischen Spermieninjektionen (ICSI). Nach dem vierten Behandlungszyklus stellten die behandelnden Ärzte bei der Versicherungsnehmerin eine stark reduzierte ovarielle Reserve sowie eine fehlende Durchgängigkeit ihrer Eileiter fest. Daher führten die Behandlungen nicht zum Erfolg. Trotz der Diagnose unterzog sich die Versicherungsnehmerin weiteren Behandlungen und verlangte erneut die Erstattung der Behandlungskosten. Der Versicherer lehnte diese wiederum ab.
Die Versicherungsnehmerin hatte in den Vorinstanzen teilweise Erfolg (LG Bochum, Urt. v. 10.06.2016 – 4 O 483/13). Nun begehrte sie vor dem Oberlandesgericht Hamm die weiterführende Kostenerstattung nach einer künstlichen Befruchtung.
Das OLG Hamm gab der Berufung der Versicherungsnehmerin statt, soweit es die Behandlungen als medizinisch notwendig ansah. So entschied es, dass der Versicherungsnehmerin die Kostenerstattung nach einer künstlichen Befruchtung für den ersten, zweiten und vierten Behandlungszyklus zustehen. Für die die restlichen Behandlungszyklen stand ihr hingegen kein Anspruch zu.
Das OLG Hamm stellte zunächst klar, dass die eingeschränkte ovarielle Reserve sowie der vollständige bzw. teilweise Tubenverschluss der Versicherungsnehmerin eine Krankheit darstellen (siehe auch: Was ist eine Krankheit in Sinne der PKV?). Sodann galt es die medizinische Notwendigkeit der Kinderwunschbehandlung zu prüfen.
Die medizinische Notwendigkeit soll als objektiver, vom Vertrag zwischen Arzt und Patient unabhängiger Maßstab zur Bestimmung des Versicherungsfalls dienen. Die Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit hängt damit nicht von der Auffassung des Versicherungsnehmers oder des behandelnden Arztes ab, sondern von den objektiven medizinischen Befunden und Erkenntnissen im Zeitpunkt der Vornahme der Behandlung. Steht die Eignung einer Behandlung für die Heilung oder Linderung einer Krankheit nach medizinischen Erkenntnissen fest, folge daraus grundsätzlich die Eintrittspflicht des Versicherers.
Für die medizinische Notwendigkeit genügt es, wenn der Erfolg einer Behandlung zwar nicht sicher vorhersehbar sei, es aber im Zeitpunkt der Behandlung vertretbar erscheint, diese als notwendig anzusehen. Ob dies der Fall ist, kann nur anhand der im Einzelfall maßgeblichen objektiven Gesichtspunkte mit Rücksicht auf die Besonderheiten der jeweiligen Erkrankung und der jeweiligen Heilbehandlung bestimmt werden. So kann es bei unheilbaren lebensbedrohlichen Erkrankungen vertretbar sein, auch Behandlungsversuche als notwendig anzusehen, die mit nicht nur ganz geringer Wahrscheinlichkeit ihr Ziel erreichen und denen notwendigerweise Versuchscharakter anhaftet (siehe auch LG Nürnberg-Fürth: Medizinische Notwendigkeit einer HIFU-Behandlung). Hier liegt jedoch eine nicht lebensbedrohende oder -zerstörende Krankheit vor.
Sind die Erfolgsaussichten einer Behandlungsmethode bereits umfangreich erforscht, so lässt erst ein höherer Grad der Erfolgswahrscheinlichkeit es als vertretbar erscheinen, die Maßnahme als bedingungsgemäß notwendig anzusehen. Von einer medizinischen Notwendigkeit ist jedoch nicht mehr auszugehen, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass die Behandlungen zum Erfolg führen, signifikant absinkt und eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 15 % nicht mehr erreicht wird.
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Hier lagen zum Zeitpunkt des Behandlungsbeginns noch keine Erkenntnisse über die Fertilitätsstörungen der Versicherungsnehmerin vor. Aus der Sicht der Versicherungsnehmerin muss es darauf ankommen, ob nach den objektiv möglichen – gegebenenfalls tatsächlich nicht erhobenen – Befunden und Erkenntnissen zum Zeitpunkt der Maßnahme tatsächlich eine medizinische Notwendigkeit gegeben war. Ansonsten ginge eine fehlerhafte und/oder unvollständige Befunderhebung des Arztes zulasten des versicherten Patienten, obgleich tatsächlich eine medizinische Notwendigkeit vorlag und bei ordnungsgemäßer und/oder vollständiger Befunderhebung eine Eintrittspflicht gegeben wäre. Die ICSI/IVF-Behandlung stellt eine medizinisch anerkannte Methode zur Überwindung der Sterilität der Versicherungsnehmerin dar. Dies gilt, obwohl darüber zu Beginn der Behandlung noch keine Erkenntnisse bei den behandelnden Ärzten vorlagen, so das OLG Hamm.
Die reine ex-ante Betrachtung wird lediglich im Einzelfall vorgenommen. Dies dient dazu, dass vertretbare Fehleinschätzungen des behandelnden Arztes hinsichtlich der medizinischen Notwendigkeit sich nicht zulasten des Versicherungsnehmers auswirken dürfen.
Der Anspruch gegen den Versicherer scheitert nicht daran, dass der Versicherungsnehmer nicht verheiratet ist, sondern eine nichteheliche Lebensgemeinschaft führt (siehe auch OLG Karlsruhe: Kostenerstattung für künstliche Befruchtung bei Unverheirateten).
Treffen körperlich bedingte Fertilitätseinschränkungen von Mann und Frau zusammen, muss zunächst geklärt werden, ob einzelne Behandlungsschritte der künstlichen Befruchtung ausschließlich durch die Erkrankung des einen oder des anderen Partners geboten sind. Nur solche isolierbaren Behandlungsschritte stellen Heilbehandlungsmaßnahmen ausschließlich des betroffenen Partners dar. Daneben erweist sich die Behandlung, wenn sie notwendig ist, um zugleich die körperlich bedingte Unfruchtbarkeit beider Partner zu überwinden, als jeweils eigene Heilbehandlung.
Aufgrund dieser Erwägungen entschied das OLG Hamm, dass der erste, der zweite und der vierte Behandlungszyklus als medizinisch notwendig einzustufen waren.
Die Entscheidung des OLG Hamm verdeutlicht, dass nicht für jede Kinderwunschbehandlung eine Kostenerstattung nach einer künstlichen Befruchtung verlangt werden kann. Vielmehr ist die medizinische Notwendigkeit jeder einzelnen Kinderwunschbehandlung genau zu prüfen. Verweigert der Krankenversicherer eine Kostenerstattung, so kann es durchaus empfehlenswert sein, die Leistungsablehnung durch einen im Versicherungsrecht spezialisierten Rechtsanwalt prüfen zu lassen. Gerne stehen hierfür auch Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte zur Verfügung.
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