Das Oberlandesgericht Hamm hatte sich mit der Frage zu befassen, welche Anforderungen an den Beweis des Fatigue-Syndroms für den Eintritt der Berufsunfähigkeit zu stellen sind (OLG Hamm, Urt. v. 13.09.2023 – 20 U 371/22).
Die Versicherungsnehmerin, die als verbeamtete Grundschullehrerin tätig war, unterhielt bei dem Versicherer eine selbständige Berufsunfähigkeitsversicherung. Dem Versicherungsvertrag waren die Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung zugrunde gelegt, die auch Bestimmungen über den bedingungsgemäßen Eintritt einer Berufsunfähigkeit enthielten:
„2. Was Ist Berufsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen?
2.1. Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn der Versicherte in Folge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich sechs Monate ununterbrochen außerstande ist, seinen zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen ausgestaltet war, auszuüben. Wir verzichten auf eine abstrakte Verweisung. …
2.2. Teilweise Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die in Nr. 2.1 genannter Voraussetzungen nur in einem bestimmten Grad voraussichtlich sechs Monate ununterbrochen erfüllt sind.“
Die Versicherungsnehmerin wurde nachfolgend vom behandelnden Arzt zunächst für kürzere Zeiträume für arbeitsunfähig erklärt. Nach einem gescheiterten Eingliederungsversuch in ihre bisherige Tätigkeit wurde sie dann endgültig wegen Dienstunfähigkeit aufgrund chronischen Fatigue-Syndroms in den Ruhestand versetzt. Sodann stellte die Versicherungsnehmerin einen Leistungsantrag auf Zahlung der vereinbarten Berufsunfähigkeitsrente (siehe hierzu auch Berufsunfähigkeit beantragen).
Im Rahmen der Leistungsprüfung beauftragte der Versicherer zunächst einen Gutachter, der durch ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten zu dem Ergebnis kam, dass bei der Versicherungsnehmerin keine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit vorliege. Wohingegen ein anderer durch den Versicherer beauftragter Gutachter durch ein internistisches Gutachten zu einem gegenteiligen Ergebnis gelangte. Der Versicherer folgte sodann dem Gutachten des ersten Gutachters und nahm an, dass der Beweis des Fatigue-Syndroms nicht gelungen sei.
Daraufhin erhob die Versicherungsnehmerin Klage vor dem Landgericht Detmold. Das Landgericht Detmold gab der Versicherungsnehmerin bis auf einen Teil der zu erstattenden Rechtsverfolgungskosten Recht (LG Detmold, Urt. v. 29.11.2022 – 2 O 299/20). Gegen diese erstinstanzliche Entscheidung richtete sich die Berufung des Versicherers vor dem Oberlandesgericht Hamm.
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Die Berufung der Versicherung blieb weitgehend erfolglos. Das Oberlandesgericht Hamm sah es als erwiesen an, dass die Versicherungsnehmerin in ihrem zuletzt ausgeübten Beruf als Grundschullehrerin bedingungsgemäß berufsunfähig sei.
Das Oberlandesgericht Hamm führte an, dass es den Beweis des Fatigue-Syndroms und der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit für erwiesen ansehe. Dies habe zunächst das Gutachten des Sachverständigen ergeben, der seine Ergebnisse auf die Angaben der Versicherungsnehmerin zu ihrer gesundheitlichen Entwicklung und die durchgeführte neuropsychologische Untersuchung stützte. Die testpsychologische Untersuchung habe nach den Angaben des Sachverständigen eine erhebliche kognitive Beeinträchtigung gezeigt. Aus diesem Grund sei er zu dem Ergebnis gekommen, dass das chronische Fatigue-Syndrom bei der Klägerin stark ausgeprägt sei und sie ihrem Beruf als Grundschullehrerin nicht mehr nachkommen könne.
Anhaltspunkte für eine Aggravation bestünden nach dem Sachverständigen nicht. Eine Überzeugungsbildung des Gerichts setze keine mathematisch zwingende Gewissheit voraus. Vielmehr genüge der für das praktische Leben brauchbare Grad an Gewissheit, der verbleibenden Zweifel Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Dieses Maß an Gewissheit sei für das Oberlandesgericht Hamm durch die Angaben der Versicherungsnehmerin, die vorgelegten Behandlungsunterlagen und die Erläuterungen des Sachverständigen erreicht.
Den Anführungen des Versicherers, die Versicherungsnehmerin sei nicht bedingungsgemäß berufsunfähig, wenn es eine Therapiemöglichkeit gebe und diese nicht nutze, folgte das Oberlandesgericht Hamm nicht. Zunächst bestünde dafür in dem vereinbarten Bedingungswerk keine Stütze. Auch liege kein Hinweis vor, dass die Versicherungsnehmerin eine gering belastende Behandlung treuwidrig verweigere. Infolgedessen bestünde keine Behandlungsobliegenheit für die Versicherungsnehmerin. Im Zuge dessen kam das Oberlandesgericht Hamm zu dem Ergebnis, dass der Beweis des Fatigue-Syndroms gelungen sei und die damit einhergehende Berufsunfähigkeit der Versicherungsnehmerin. Der Versicherungsnehmerin stehe in Angesicht der bewiesenen bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit ein Anspruch auf Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung zu.
Das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm zeigt, dass für den Beweis des Fatigue-Syndroms in der Berufsunfähigkeitsversicherung keine mathematisch zwingende Gewissheit vorausgesetzt, wird. Es genügt, dass der für das praktische Leben brauchbare Grad an Gewissheit der verbleibenden Zweifel Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Dafür können insbesondere der Vortrag des Versicherungsnehmers, die Behandlungsunterlagen und das Sachverständigengutachten ausschlaggebend sein.
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Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.
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