Die vorvertragliche Anzeigepflicht spielt im Rahmen des Versicherungsrechts, insbesondere im Personenversicherungsrecht eine große Rolle. Schließlich sind die vom Versicherungsnehmer im Antragsformular angegebenen Umstände Grundlage für die Risikoprüfung des Versicherers. Die vorvertraglichen Mitteilungen des Versicherungsnehmers sollen es dem Versicherer ermöglichen eine zutreffende Einschätzung des angetragenen Risikos vorzunehmen. Die vorvertragliche Anzeigepflicht trägt damit dem Informationsdefizit des Versicherers hinsichtlich der tatsächlichen Risikoumstände Rechnung. Der folgende Artikel gewährt einen Einblick in die Thematik der vorvertraglichen Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers.
Die Anzeigepflicht erstreckt sich auf lediglich auf sog. Gefahrumstände, also auf solche Umstände, die für die Übernahme einer Gefahr erheblich sind. Darunter fallen alle Aspekte, die den Entschluss des Versicherers, einen Vertrag überhaupt oder zu den vereinbarten Bedingungen (OGH VersR 1993, 995, 996) abzuschließen, beeinflussen können.
Der Versicherungsnehmer muss indes positive Kenntnis von den Antragsfragen und dem mitzuteilenden Umstand haben (siehe auch Positive Kenntnis von gefahrerheblichen Umständen (BGH)). Folglich muss der Versicherungsnehmer bis zur Abgabe seiner Vertragserklärung positiv von dem anzeigepflichtigen Umstand gewusst haben. Die Bestimmung der Gefahrerheblichkeit der Umstände liegt hingegen beim Versicherer. So hat der Versicherungsnehmer die in Textform gestellten Fragen des Versicherers wahrheitsgemäß zu beantworten, auch wenn er die Gefahrerheblichkeit im Einzelfall nicht erkennt oder nicht akzeptiert.
Insbesondere gilt zu beachten, dass weder ein Kennenmüssen noch eine grob fahrlässige Unkenntnis hinsichtlich des Gefahrumstand einer positiven Kenntnis des Versicherungsnehmers genügt (siehe auch Positive Kenntnis von gefahrerheblichen Umständen (BGH)). Im Falle des Vergessens gilt für den Versicherungsnehmer eine Erinnerungspflicht, also eine Pflicht zur angemessenen Gedächtnisanstrengung (siehe hierzu auch: Anzeigepflichtverletzung in der Berufsunfähigkeitsversicherung bei Vergessen einer Behandlung? (OLG Hamm)). Im Übrigen ist auf Gedächtnislücken und daraus abzuleitenden Lücken in den Angaben hinzuweisen (OLG Köln VersR 1973, 1017). Weiterhin trifft den Versicherungsnehmer eine Nachfrage- und Erkundungspflicht (BGH VersR 1993, 828) mit der Folge, dass er sich hinsichtlich der Umstände, die für ihn leicht erkundbar waren, nicht auf fehlende Kenntnis berufen kann. (siehe hierzu auch: Anzeigepflichtverletzung bei unbekannten Erkrankungen? (LG Freiburg)).
Eine Kenntnis von der Gefahrerheblichkeit ist allerdings nicht erforderlich. Einen vertiefenden Artikel zur Kenntnis des Versicherungsnehmers finden Sie hier: Kenntnis des Versicherungsnehmers als Voraussetzung für eine Obliegenheitsverletzung in der Berufsunfähigkeitsversicherung
Eine klare und eindeutige Frage des Versicherers ist zunächst Voraussetzung für die Anzeigepflicht. Die Antragsfragen können auch durch einen vom Versicherer beauftragten Arzt gestellt werden (BGH VersR 1980, 762, 763). Dahingegen sind Fragen eines Versicherungsmaklers nicht ausreichend, sofern der Versicherer sie sich nicht zu eigen macht. Ein Sichzueigenmachen erfordert wiederum, dass dem Versicherungsnehmer ersichtlich wird, dass es sich um Fragen des Versicherers handeln soll (siehe auch Anzeigepflichtverletzung bei Fragen des Versicherungsmaklers (LG Dortmund)). Einen vertiefenden Artikel zur Maklerthematik finden Sie hier: Gesundheitsfragen in einem Maklerfragebogen
Die vom Versicherungsnehmer zu beantwortenden Fragen müssen darüber hinaus in Textform gestellt werden. Die Fragen des Versicherers müssen also konkret einer zur dauerhaften Wiedergabe in Schriftzeichen geeigneten Weise gestellt werden. Demgemäß genügen mündliche Fragen nicht, mit der Folge, dass sie wie nicht gestellte Fragen behandelt werden. Ebenso ungenügend ist das bloße Vorlesen der Fragen durch einen Versicherungsvertreter.
Der Versicherungsnehmer muss zudem zutreffende Kenntnis von den zu beantwortenden Fragen erlangt haben. Alternativ genügt auch die ihm zuzurechnende Kenntnis seines Stellvertreters oder Wissenserklärungsvertreters.
Die Hamburger Kanzlei Jöhnke & Reichow vertritt ihre Mandanten bundesweit vor Amtsgerichten, Landgerichten und Oberlandesgerichten. Unsere Rechtsanwälte unterstützen Sie dabei, zu Ihrem Recht zu kommen und stehen Ihnen zunächst gerne für einen kostenfreien Erstkontakt zur Verfügung.
Umstritten ist, ob vor dem Hintergrund von Treu und Glauben Raum für eine sogenannte spontane Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers bleibt. Dies ist nach den Änderungen der VVG-Reform durchaus kritisch zu sehen. Eine spontane Anzeigepflicht kann jedoch in sehr restriktiv zu behandelnden Ausnahmefällen bestehen. Diese ist allerdings auf die Mitteilung außergewöhnlicher und besonders wesentlicher Informationen gerichtet, die dem Aufklärungsinteresse eines schutzwürdigen Versicherers Rechnung trägt. Dabei muss es sich insbesondere um eine derart grundlegende Berührung des Aufklärungsinteresses handeln, dass sich dem Versicherungsnehmer ihre Mitteilung auch ohne entsprechendes Auskunftsverlangen aufdrängen muss (siehe auch Spontane Offenbarungspflicht im Versicherungsfall (BGH)). Einen vertiefenden Artikel zum Thema finden Sie unter: Die spontane Anzeigeobliegenheit – ein Mythos oder gelebte Pflicht?
Im Rahmen der Anzeigepflichtverletzung wird nicht zwischen der Unterlassung der Anzeige eines gefahrerheblichen Umstandes und der positiven Falschdarstellung differenziert. Vielmehr werden sowohl das Verschweigen vorhandener Umstände als auch deren unrichtige, unvollständige oder verfälschende Darstellung erfasst (Dazu siehe auch: Anzeigepflichtverletzung bei unvollständiger Beantwortung der Gesundheitsfragen einer Pflegetagegeldversicherung). Auch eine beschönigende Schilderung oder Verharmlosung der gefragten Umstände kann also zu einem Verstoß gegen die vorvertragliche Anzeigepflicht führen. Im Allgemeinen liegt eine Falschbeantwortung dann vor, wenn der Versicherer aufgrund der unzureichenden Antworten des Versicherungsnehmers gegen den Sinn und Zweck der vorvertraglichen Anzeigepflicht das in Frage stehende Risiko nicht richtig einschätzen kann (siehe auch Arglistige Täuschung durch Nichtangabe einer Alkoholerkrankung (OLG Celle)).
Bei Nichtbeantwortung einer Frage kann dies als Verneinung angesehen werden (siehe auch Arglistige Täuschung durch Durchstreichen des Antwortfeldes (OLG Koblenz)), ebenso wie bei Streichung einer Frage. Weiterhin liegt eine dem Versicherungsnehmer zuzurechnende Falschbeantwortung auch in der Blankounterschrift eines Formulars und der anschließenden Überlassung zum Ausfüllen der Fragen durch einen Versicherungsvertreter vor (siehe auch Blankounterschrift des Antragsformulars (OLG Zweibrücken)).
Bei der Auslegung der Antragsfragen ist maßgeblich auf die Sicht und das Verständnis eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers abzustellen. Entscheidend ist mithin, wie dieser die entsprechende Frage bei aufmerksamer Durchsicht und verständiger Würdigung und unter Berücksichtigung ihres dabei erkennbar werdenden Sinnzusammenhangs verstehen musste (BGH VersR 1999, 565). Ob eine Frage falsch oder unvollständig beantwortet wurde, richtet sich letztlich nach der konkreten im Antrag gestellten Frage. Aus diesem Grund kann bei unklar oder uneindeutig gestellten Antragsfragen eine Anzeigepflichtverletzung bereits ausgeschlossen sein (siehe auch Auslegung von Antragsfragen des Versicherers). Der zukünftige Versicherungsnehmer handelt jedenfalls nicht schuldhaft, wenn er die Antragsfragen in nachvollziehbarer Weise verstanden und auf dieser Grundlage beantwortet hat. Einen weiterführenden Artikel zur Auslegung von Antragsfragen für den speziellen Fall der Pflegeversicherung finden Sie hier: Falschbeantwortung von Gesundheitsfragen in der Pflegeversicherung
Die Kanzlei Jöhnke & Reichow wird zu diesem und ähnlichen Fällen auf dem Vermittler-Kongress am 18.01.2024 referieren. Die digitale Veranstaltung ist für Vermittler kostenfrei. Hier geht es zur
Nachdem eine objektive Falschbeantwortung festgestellt wurde, kommt es zusätzlich auf ein subjektives Verschulden des Versicherungsnehmers an. Im Rahmen des subjektiven Verschuldens der Falschbeantwortung stellt sich die Frage, ob der Versicherungsnehmer die Anzeigepflicht schuldhaft verletzt hat. Diesbezüglich ist zu prüfen, ob der Versicherungsnehmer hinreichend Verständnis von den Antragsfragen erlangt hat (hierzu auch: Ist jeder Arztbesuch im Versicherungsantrag anzugeben?).
Hat der Versicherungsnehmer unter Zugrundelegung einer rechtmäßigen Auslegung ein abweichendes Verständnis von der Antragsfrage und folgt daraus in nachvollziehbarer und schlüssiger Weise (LG Köln, Urt. v. 18.04.2007 – 26 O 511/05) eine objektive Falschbeantwortung, so kann der Versicherungsnehmer ein fehlendes subjektives Verschulden hinsichtlich der Falschbeantwortung geltend machen. Einen weiterführenden Artikel zur Falschbeantwortung finden Sie hier für den speziellen Fall der Berufsunfähigkeitsversicherung: Falschbeantwortung von Gesundheitsfragen in der Berufsunfähigkeitsversicherung muss nicht Arglist sein
Der Versicherer trägt die Beweislast hinsichtlich der Verletzung der Anzeigepflicht (siehe auch Positive Kenntnis von gefahrerheblichen Umständen (BGH)). Er hat die Unrichtigkeit bzw. Unvollständigkeit der Anzeige des Versicherungsnehmers, die Gefahrerheblichkeit der Umstände, die Kenntnis des Versicherungsnehmers von diesen Umständen, die Frage nach diesen Umständen sowie die Kenntnis des Versicherungsnehmers von den Fragen zu beweisen. Behauptet der Versicherungsnehmer wiederum die Kenntnis des Versicherers, so ist der Versicherungsnehmer gleicherweise beweispflichtig.
Wenn der Versicherungsnehmer seine Anzeigepflicht nicht oder nicht vollständig erfüllt, so stehen dem Versicherer abhängig vom Grad des Verschuldens des Versicherungsnehmers verschiedene Gestaltungsechte zu. In Betracht kommen dabei die Anfechtung des Versicherungsvertrages, der Rücktritt vom Versicherungsvertrag, die Kündigung des Versicherungsvertrages und die Vertragsanpassung.
Der Versicherer hat seine Rechte nach § 19 VVG jedoch grundsätzlich innerhalb von 5 Jahren ab Abschluss des Versicherungsvertrages geltend zu machen. Dies gilt jedoch nicht für Versicherungsfälle die innerhalb dieser Frist eingetreten sind. Im Falle der vorsätzlichen oder arglistigen Verletzung der Anzeigepflicht verlängert sich diese Frist auf 10 Jahre.
Im Falle der Anfechtung des Versicherungsvertrages wegen arglistiger Täuschung richtet sich die Anfechtungsfrist sodann jedoch nach § 124 BGB und beträgt grundsätzlich 10 Jahre. Dabei ist es grundsätzlich unerheblich, ob der Versicherungsfall innerhalb dieser Frist eingetreten ist. Entscheidend ist die Abgabe der Anfechtungserklärung des Versicherers (siehe dazu Verspätete Arglistanfechtung in der Berufsunfähigkeitsversicherung?).
Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.
Rechtsanwalt Bernhard Gramlich ist seit 2019 angestellter Anwalt der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2020 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Als Rechtsanwalt hat er bereits einer Vielzahl von Versicherungsnehmern bei der Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber Versicherern geholfen.
Mit unserer Kompetenz streiten wir ehrgeizig für Ihr Ziel, nämlich Ihre Interessen durchzusetzen! Wir freuen uns, dass unsere Mandanten-/-innen unser Engagement schätzen und positiv bewerten.
Verpassen Sie auch zukünftig keinen Beitrag unserer Kanzlei. Über unseren 2mal monatlich erscheinenden Newsletter erhalten Sie stets die aktuellen Beiträge unserer Kanzlei zu den Themen Versicherungsrecht, Bank- und Kapitalmarktrecht, Vertriebsrecht, Handelsvertreterrecht und Wettbewerbsrecht. Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung.