Bei einem Suizid vor Ablauf der Karenzzeit von drei Jahren besteht grundsätzlich keine Leistungspflicht des Versicherers aus der Lebensversicherung. Ausnahmsweise kann dies anders sein, wenn ein die freie Willensbildung ausschließender Zustand krankhafter geistiger Störung vorliegt. Ob ein solcher auch bei einer endogenen Depression vorliegen kann, war Gegenstand des Urteils des LG Mönchengladbach vom 14.06.1973 (Az.: 2 O 257/71).
Der Versicherte hatte im Mai 1970 bei seinem Versicherer eine Lebensversicherung abgeschlossen. Im Januar 1971 nahm sich der Versicherte das Leben. Sodann beantragte die bezugsberechtigte Ehefrau Leistungen aus dem Versicherungsvertrag. Sie argumentierte, dass auch wenn sich der Versicherte suizidiert habe, der Versicherer trotzdem zur Leistung verpflichtet bliebe. Sie behauptete, der Versicherte habe sich zum Tatzeitpunkt in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter geistiger Störung befunden.
Dieser Zustand ergebe sich zum einen aus dem Inhalt des Abschiedsbriefes des Versicherten und zum anderen aus dem Verhalten des Versicherten kurz vor seinem Tod. Er habe berufliche Schwierigkeiten gehabt und deshalb seinen Job aufgegeben. Bei einer anderen Arbeitsstelle sei er gekündigt worden. Darunter habe er sehr gelitten. Auch hätten Bekannte, die er kurz vor seinem Tod antraf, den Versicherten als sehr verwirrt und verändert beschrieben. Eine ärztliche Diagnose mit Depressionen sei hingegen nie ausgestellt worden.
Der Versicherer hingegen verweigerte die Leistung und erklärte den Rücktritt vom Versicherungsvertrag. Zum einen habe beim Versicherten zum Zeitpunkt der Tat kein die freie Willensbildung ausschließender Zustand vorgelegen, denn der Abschiedsbrief zeuge von einer durchdachten Tat. Zum anderen sei ohnehin ein wirksamer Rücktritt vom Versicherungsvertrag erfolgt. Denn der Versicherte habe bei Antragstellung die Gesundheitsfragen wahrheitswidrig falsch beantwortet. Die Frage nach dem Vorliegen psychischer oder nervlicher Beeinträchtigungen hatte der Versicherte nämlich verneint gehabt. Jedoch müssten die psychischen Auffälligkeiten, welche die Ehefrau schilderte, schon bei Antragsstellung vorgelegen haben, womit der Versicherte die Gesundheitsfragen bewusst wahrheitswidrig beantwortet habe. Deshalb stehe dem Versicherer ein Rücktrittsrecht zu und eine Leistungspflicht bestehe nicht.
Das Landgericht Mönchengladbach verneinte ein etwaiges Rücktrittsrecht des Versicherers. Ein solches hätte nur vorgelegen, wenn dem Versicherten zum Zeitpunkt der Antragstellung bewusst gewesen wäre, dass er zu Depressionen neige und somit den Versicherer bewusst wahrheitswidrig getäuscht hätte.
Jedoch sei der Versicherte bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht ärztlich mit Depressionen oder einer ähnlichen Krankheit, welche den Schluss auf eine Neigung zu Depressionen zuließe, diagnostiziert worden. Dies spreche gegen eine Kenntnis der Anfälligkeit für psychische Probleme des Versicherten. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem Abschiedsbrief, welcher endogene Verstimmungen erkennen lasse. Endogene, also aus sich selbst heraus entstehende Verstimmungen, fasse der Laie nach normalerweise nicht als krankhaften Zustand auf, der eine pathologische Schwelle überschreite. Dafür, dass der konkrete Fall hier anders gelagert sein solle, lägen keinerlei Anhaltspunkte vor. Mangels Kenntnis der Geneigtheit zu Depressionen habe der Versicherte bei Antragsstellung nicht arglistig über seinen Gesundheitszustand getäuscht. Somit stehe dem Versicherer auch kein Rücktrittsrecht vom Vertrag zu.
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Ob der Versicherer trotz des grundsätzlich die Leistungspflicht ausschließenden Suizides zur Leistung verpflichtet bleibe, hänge von der Einschlägigkeit des Ausnahmetatbestandes ab. Habe bei dem Versicherten zum Zeitpunkt der Tat ein die freie Willensbildung ausschließender Zustand vorgelegen, so bleibe die Leistungspflicht trotz des Suizids bestehen.
Ein solcher Ausnahmetatbestand liege hier vor. Denn der Versicherte habe zum Zeitpunkt des Suizids unter einer anlagebedingten Depression gelitten und sich zudem in einer endogen-depressiven Phase suizidiert. Der Sachverständige habe angeführt, dass sich in dem Abschiedsbrief des Versicherten zahlreiche Hinweise auf das Vorliegen einer endogenen Depression befunden haben. Zudem habe er unter ärztlich behandelten körperlichen Beschwerden gelitten, welche sich harmonisch in das Krankheitsbild einfügten. Weiterhin sprächen für das Vorliegen einer endogenen Depression die beruflichen Schwierigkeiten, mit denen sich der Versicherte auch an sein Umfeld gewandt und schließlich auch in ärztliche Behandlung begeben habe. Auch das Verhalten des Versicherten, welches die Zeugen schilderten, sei mit einer endogenen Depression in Einklang zu bringen.
Mit einer solchen Diagnose sei man dem eigenen Gemütszustand regelmäßig machtlos ausgeliefert. Die Intervention aus eigener Kraft sei kaum möglich. Der Abschiedsbrief des Versicherten bekräftige das Vorliegen einer solchen Episode im Tatzeitpunkt. Dass der Brief klar und logisch gefasst sei und von einem geplanten Handeln zeuge, schließe das Vorliegen eines die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustands hingegen nicht aus. Denn bei einer endogenen Depression sei die Fähigkeit zur Planung und logischem Denken regelmäßig nicht aufgehoben. Die freie Willensbildung sei vielmehr dadurch ausgeschlossen, dass eine Gegenwehr gegen die depressiven Gedanken schlicht unmöglich sei.
Der Versicherte habe zum Tatzeitpunkt demnach unter einer endogenen Depression in einer akuten Phase gelitten, welche die freie Willensbildung des Versicherten ausgeschlossen habe. Somit blieb die Leistungspflicht des Versicherers bestehen.
Hat sich der Versicherte innerhalb der Karenzeit suizidierte, so kann die Leistungspflicht des Versicherers gleichwohl fortbestehen, wenn sich der Versicherte zum Zeitpunkt der Tat in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand befand. Ein solcher Zustand kann Vorliegen, wenn der Versicherte an einer endogenen Depression litt und diese es ihm unmöglich machte, sich gegen die depressiven Gedanken ernsthaft zu wehren. Denn durch das Unvermögen, sich diesen Gedanken zu widersetzen, wird die freie Willensbildung ausgeschlossen. Dass der Versicherte noch einen klar gefassten Abschiedsbrief anfertigen kann, ändert an dieser Tatsache nichts.
Es ist jedenfalls immer das Einzelfallgeschehen unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände zu betrachten. Verweigert die Lebensversicherung bezugsberechtigten Personen die Leistung, kann es sich daher durchaus empfehlen einen im Versicherungsrecht spezialisierten Rechtsanwalt hinzuzuziehen. Weitere interessante Beiträge zum Thema finden sie hier: „Zahlt die Lebensversicherung nach einem Suizid?“
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