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Aggravation und Berufsunfähigkeit

Was sind Aggravation, Simulation und Beschwerdeverdeutlichungen und was hat das mit Berufsunfähigkeit zu tun? Und was gilt es als Versicherungsnehmer zu beachten, falls die Berufsunfähigkeitsversicherung in einem Leistungsprüfungsverfahren ein medizinisches Gutachten einholt und / oder die Leistung verweigert? Nachfolgend ein Überblick zu dieser aufgeworfenen Fragestellung.

Was sind Aggravation, Simulation und Beschwerdeverdeutlichung?

Aggravation, Simulation und Beschwerdeverdeutlichung sind sich auf den ersten Blick nicht unähnlich. Gleichwohl gibt es doch einige Unterschiede, die ein Abgrenzung erforderlich machen. Alle diese Begriffe können im Bereich der Berufsunfähigkeit eine Rolle spielen.

  • Unter Aggravation versteht man die bewusst übertriebene Darstellung und Schilderung tatsächlich vorliegender Symptome oder Beschwerden durch einen Patienten.
  • Dagegen ist die Simulation dadurch gekennzeichnet, dass überhaupt nicht vorhandene Symptome und Beschwerden vom Betroffenen bewusst und absichtlich vorgetäuscht werden.
  • Davon zu unterscheiden sind Beschwerdeverdeutlichungen. Dabei versucht die begutachtete Person, den Gutachter vom Vorliegen von Symptomen und Beschwerden zu überzeugen. Häufig geschieht dies unbewusst.

Da sich die Voraussetzungen von Aggravation, Simulation und Beschwerdeverdeutlichung teilweise überschneiden, ist eine trennscharfe Zuordnung zu einem der Begriffe nicht immer möglich. Sie alle stellen eine Form der sogenannten Antwortverzerrung des Versicherten dar. Sie können sowohl kumulativ als auch isoliert auftreten.  Für alle drei Formen liegen die Gründe meist in dem Streben nach einem sekundären Krankheitsgewinn. Ein solcher kann beispielsweise ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit oder auch eine Versicherungsleistung sein. Deshalb zeigen sich Aggravation und Simulation besonders häufig in Gutachten zur Feststellung einer Berufsunfähigkeit.

Antwortverzerrung und Gutachten zur Berufsunfähigkeitsversicherung

Stellt der Versicherungsnehmer einen Leistungsantrag, kann die Versicherung zunächst prüfen, ob tatsächlich ein Leistungsfall vorliegt. Dazu sind oftmals notwendige Erhebungen, wie zum Beispiel medizinische Gutachten, einzuholen.

Der Sachverständige hat sich in seinem Gutachten dazu zu äußern, ob Aggravations- oder Simulationstendenzen beim Versicherten vorliegen. Erfolgt der Leistungsantrag aufgrund einer psychischen Erkrankung, kann eine fehlende Bezugnahme darauf sogar zur Unvollständigkeit des Gutachtens führen (siehe hierzu auch Nachweis einer posttraumatischen Belastungsstörung (OLG Celle)). Da die Beurteilung hinsichtlich der Antwortverzerrungstendenzen zusammen mit der Hauptuntersuchung zu erfolgen hat, ist eine Nachholung diesbezüglich grundsätzlich nicht möglich, sodass das Gutachten unbrauchbar ist und eine komplett neue Begutachtung erfolgen muss. Dadurch kann sich der Zeitraum zwischen Antragstellung und Leistung erheblich verzögern (Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung, 4. Auflage 2020, Rn. 93). Werden jedoch nachträglich Beschwerdevalidierungstests durchgeführt und ergeben diese keine Anhaltspunkte für Simulation oder Aggravation, so ist dieses im Rahmen eines Ergänzungsgutachtens durchaus möglich, da die nachträgliche Durchführung von Beschwerdevalidierungstests die Richtigkeit des gutachterlichen Ergebnisses grundsätzlich nicht beeinträchtigen (vgl. Generali Lebensversicherung AG vom OLG Frankfurt zur Leistung wegen Depressionen verurteilt).

Der Gutachter hat festzustellen, welche Tätigkeitsbereiche des Versicherungsnehmers in welchem Umfang beeinträchtigt sind. Wenn der Sachverständige zu einzelnen Fragen keine Feststellungen treffen kann, hat er dies im Gutachten zu vermerken. Dies gilt sowohl für Unsicherheiten darüber, ob Beeinträchtigungen bestehen als auch hinsichtlich des Vorliegens von Antwortverzerrungstendenzen. Eine Stellungnahme hinsichtlich des Grades der Berufsunfähigkeit gehört jedoch nicht dazu, sondern obliegt dem Versicherer bzw. dem Gericht (Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung, 4. Auflage 2020, Rn. 94).

Feststellung von Aggravationstendenzen  

Medizinische Fachgutachter können mit wenigen forensischen Tests schnell herausfinden, ob die Aussagen des Begutachteten zu den Beschwerden und dem Befund passen. Dazu zählt beispielsweise das Scheitern an Aufgaben, die selbst schwer geschädigte Personen noch hätten lösen können, inkonsistente Testergebnisse bei mehreren und gleich durchgeführten Tests oder eine starke Diskrepanz zwischen der Leistungsfähigkeit im Alltag und den Testbefunden. Auch wenn für eine ausgeprägte Aggravation und Simulation deutlich auffällige Testergebnisse vorliegen müssen, können Tendenzen in diese Richtung schon bei leichteren Abweichungen vermutet werden. Steht eine solche Vermutung erstmal im Raum, kann das weitreichende Konsequenzen für einen Versicherungsnehmer haben, der bei seiner Berufsunfähigkeitsversicherung einen Leistungsantrag stellt.

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Folgen für den Versicherungsnehmer

Stellt der Gutachter Aggravations- und Simulationstendenzen fest oder ist sich nicht sicher, ob solche vorliegen oder nicht, kann er daraus resultierend keine Angaben zum Umfang der Beeinträchtigung bestimmter Tätigkeitsbereiche machen. Denn das Gutachten soll die objektive Beeinträchtigung herausarbeiten, was bei Antwortverzerrungen nicht möglich ist. Da die Versicherung den Mindestgrad der Berufsunfähigkeit aus diesen Angaben der Gutachter bestimmt, kann bei Fehlen dieser Angaben das Erreichen dieser Schwelle nicht bewiesen werden. Der Versicherungsnehmer trägt jedoch die Beweislast hinsichtlich des Umfangs der Berufsunfähigkeitsversicherung, sodass festgestellte oder vermutete Aggravations- und Simulationstendenzen zu seinen Lasten gehen und er den Beweis erbringen muss, dass solche Tendenzen nicht vorliegen (siehe auch Beweis der Berufsunfähigkeit (OLG Saarbrücken)).

Zwar könnte das Gericht im Wege der freien Beweiswürdigung trotz vorliegender bzw. vermuteter Aggravations- und Simulationstendenzen zu der Überzeugung kommen, dass tatsächlich eine Beeinträchtigung besteht, die die Anforderungen für eine Berufsunfähigkeit erfüllt. Dies wird meist jedoch nicht der Fall sein, da diese Tendenzen naturgemäß die objektive Wahrheit verschleiern können und eine objektive Klärung kaum möglich ist (siehe auch Vortäuschen der Berufsunfähigkeit (OLG Saarbrücken)).

Von der Möglichkeit, ein neues Gutachten einzuholen, macht das Gericht nur Gebrauch, wenn das bereits vorhandene Gutachten ungenügend ist. Das ist bei einem Gutachten, das ein zulasten des Versicherungsnehmers gehendes Ergebnis hat, grundsätzlich nicht der Fall (siehe auch Beweis der Invalidität in der Unfallversicherung (OLG Stuttgart)). Das gilt auch, wenn es sich um eine unbewusste Beschwerdeverdeutlichung handelte. Denn maßgeblich ist nur, ob objektiv antwortverzerrende Tendenzen vorlagen. Die subjektive Komponente ist hingegen nicht zu berücksichtigen.

Ausnahmen und Praxistipps

Falls der Sachverständige zwar Aggravations- und Simulationstendenzen feststellt, diese in seinem Gutachten berücksichtigt und dennoch zu einer gesicherten Diagnose kommt, kann der Fall wiederum anders liegen. Die Versicherung kann eine objektive Beurteilung des Grades der Berufsunfähigkeit vornehmen, wenn es dem Gutachter gelingt festzustellen, zu welchem Anteil die Antwortverzerrungen die Einschränkungen beeinflusst haben und wie stark die Beeinflussung wäre, wenn die Tendenzen nicht vorlägen (siehe auch Nachweis der Berufsunfähigkeit trotz Aggravation (OLG Frankfurt)). Dass der Sachverständige eine derlei präzise Aussage dahingehend treffen kann, welche Beeinträchtigung tatsächlich objektiv vorliegen dürfte und welche der Aggravation geschuldet sind, dürfte freilich eine Ausnahme bleiben.

Es sollten deshalb Symptome und Beschwerden bei einer Begutachtung möglichst realitätsnah und wahrheitsgemäß geschildert werden. Selbst unabsichtliche Ausschmückungen können beim Gutachter Unsicherheiten hinsichtlich möglicher Aggravations- und Simulationstendenzen auslösen. Das ist auch deshalb empfehlenswert, da im Gutachten auftauchende Aggravations- und Simulationstendenzen der abschließenden Beurteilung des Versicherungsfalles und damit auch einer Fälligkeit des Leistungsanspruches entgegenstehen können. Teilweise kann es sich auch um einen wichtigen Grund i.S.v. § 314 BGB handeln, der den Versicherer zur Kündigung des Berufsunfähigkeitsvertrages berechtigen kann (siehe auch Fälligkeit von Berufsunfähigkeitsrenten (OLG Koblenz)).

Vor einer Begutachtung oder nach Erhalt eines Gutachtens, welches Aggravation oder Simulation attestiert, empfiehlt es sich, einen Fachanwalt für Versicherungsrecht hinzuzuziehen. In unserer Rechtsprechungssammlungen finden Sie weitere interessante Urteile zur Berufsunfähigkeit.

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Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke

Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.

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Rechtsanwalt Bernhard Gramlich

Rechtsanwalt Bernhard Gramlich ist seit 2019 angestellter Anwalt der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2020 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Als Rechtsanwalt hat er bereits einer Vielzahl von Versicherungsnehmern bei der  Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber Versicherern geholfen.

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