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Leidensbedingter Berufswechsel bei Berufsunfähigkeit (KG Berlin)

Kann für die Beurteilung des Eintritts der Berufsunfähigkeit trotz leidensbedingten Berufswechsels auf den vorherigen Beruf als Maßstab zurückgegriffen werden? Oder ist der neu ergriffene Beruf und dessen Ausgestaltung entscheidend? Darüber hatte das Kammergericht Berlin (KG Berlin) jüngst zu befinden (KG Berlin, Beschluss v. 07.07.2021 – 6 U 111/18).

Berufswechsel des Versicherungsnehmers

Der Versicherungsnehmer unterhält bei der beklagten Versicherung eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Wegen behaupteter eingetretener Berufsunfähigkeit in seinem früheren Beruf als angestellter Verkaufsdirektor eines Versicherungsunternehmens begehrt er vom Berufsunfähigkeitsversicherer Leistungen aus dem Versicherungsvertrag. Der Versicherte hatte unstreitig bei einem Reitunfall im Juni 2013 eine Berstungsfraktur (Knochenbruch) erlitten, die operativ versorgt werden musste. Als Verkaufsdirektor ist er anschließend nicht mehr tätig geworden. Im Juli 2014 hat der Versicherungsnehmer sich selbständig gemacht und eine Generalagentur seines bisherigen Arbeitgebers übernommen.

Sodann behauptet der Versicherte, wegen eines im Februar 2016 erlittenen Alkoholrückfalls und einer sich daraufhin entwickelten Depression (weitere Infos siehe hierzu Berufsunfähigkeit wegen Depression) jedenfalls in Kombination mit den unfallbedingten körperlichen Gesundheitsstörungen seit Sommer 2016 berufsunfähig zu sein. Der beklagte Versicherer lehnte eine Leistungserbringung ab. Gegen diese Ablehnung richtete sich die Klage. Das Landgericht Berlin hatte die Klage abgewiesen. Dagegen wendet sich der Versicherte mit der Berufung zum Kammergericht (weitere Infos zum Ablauf des Gerichtsprozesses gegen BU-Versicherer siehe auch Der Prozess gegen den Versicherer).

Die Entscheidung des KG Berlin

Die Berufung des Versicherungsnehmers hat keinen Erfolg. Der Senat hielt insbesondere daran fest, dass bei dem Versicherten für die Beurteilung des Eintritts bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit auf die von ihm seit Juli 2014 ausgeübte selbständige Tätigkeit als Generalagent abzustellen sei. Die Klage sei jedoch bereits mangels behaupteter Berufsunfähigkeit unschlüssig.

Das KG Berlin führt aus, dass für die Beurteilung des Eintritts bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit gemäß § 172 VVG der zuletzt ausgeübte Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, maßgeblich sei. Danach gelte bei der Bestimmung des maßgeblichen Berufs das Stichtagsprinzip, wonach grundsätzlich derjenige Beruf entscheidend sei, den der Versicherungsnehmer zum maßgeblichen Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls ausgeübt hat. Dies entspreche im Regelfall der Interessenlage des Versicherungsnehmers, der andernfalls bei jedem Berufswechsel den Versicherungsschutz anpassen müsste, um in dem neuen Beruf, der fortan die finanziellen Mittel für seinen Lebensunterhalt liefert, gegen gesundheitliche Beeinträchtigungen der Berufsausübung geschützt zu sein.

Sodann komme es für die Feststellung bedingungsgemäßer Beeinträchtigungen des Versicherungsnehmers in diesem “letzten” Beruf darauf an, wie im jeweiligen Einzelfall die Ausübung dieses Berufs durch den Versicherungsnehmer ausgestaltet war und zwar zu der Zeit, als der Versicherungsnehmer dem betreffenden Beruf noch ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen nachgehen konnte. Liegt hingegen ein Berufswechsel vor, sei regelmäßig der neu ergriffene Beruf und dessen Ausgestaltung entscheidend.

Nach Auffassung des KG Berlin bleibe der vorherige Beruf als Maßstab für die Beurteilung von Berufsunfähigkeit nur dann maßgeblich, wenn der Berufswechsel ausschließlich leidensbedingt war, etwa weil die weitere Ausübung des bisherigen Berufs Raubbau an der Gesundheit des Versicherungsnehmers bedeutet hätte. Liege demnach kein leidensbedingter Berufswechsel in diesem Sinne vor, wirke sich das Stichtagsprinzip dahin aus, dass der Beruf, in den gewechselt worden ist, als der konkret im maßgeblichen Zeitpunkt ausgeübte Beruf gilt. Die für einen leidensbedingten Berufswechsel als anspruchsbegründende Tatsache maßgebliche Darlegungs- und Beweislast, trage nach allgemeinen Grundsätzen der Versicherungsnehmer.

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Kein leidensbedingter Berufswechsel

Ein leidensbedingter Berufswechsel liege nach Auffassung des KG Berlin im Streitfall gerade nicht vor.  Da es sich bei dem Motiv für den Berufswechsel um eine innere Tatsache handele, die einer Beweisführung nicht zugänglich ist, könne der Beweis nur aufgrund einer Würdigung der äußeren Umstände, die die leidensbedingte Motivation plausibel erscheinen lassen, unter Würdigung der vom Versicherungsnehmer vorgetragenen Gründe geführt werden, wobei der Art und Schwere der gesundheitlichen Leiden und der daraus resultierenden Einschränkungen der beruflichen Tätigkeit ein maßgebliches Gewicht zukomme. Bei gesundheitlichen Leiden, die die Berufsausübung objektiv in erheblichem Ausmaß beeinträchtigen, mag der Beweis in Verbindung mit überzeugenden Angaben des Versicherungsnehmers im Rahmen seiner persönlichen Anhörung gelingen. Eine solche Konstellation liege im gegebenen Sachverhalt aber nicht vor, meint das KG Berlin.

Im Ergebnis sieht der Senat den Beweis eines leidensbedingten Berufswechsels letztlich als nicht geführt an. Denn die Beweisaufnahme über die Behauptung des Eintritts der Berufsunfähigkeit schon im alten Beruf habe ergeben, dass das Ausmaß der leidensbedingten Einschränkungen der vormaligen Tätigkeit weitaus geringer war als behauptet. Ebenfalls konnten die angegebenen Beschwerden vom gerichtlichen Sachverständigen mit den objektiv feststellbaren Befunden nicht in Einklang gebracht werden.

Fazit und Praxishinweis

Die Entscheidung des KG Berlin ist im Ergebnis überzeugend. Die Anwendung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den rechtlichen Grundsätzen, die bei einem Berufswechsel des Versicherten vor Eintritt des Versicherungsfalls gelten, hält im vorliegenden Fall einer rechtlichen Prüfung stand. Demzufolge ist für die Feststellung bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit grundsätzlich die letzte konkrete Berufsausübung, so wie sie in noch gesunden Tagen ausgestaltet war, maßgeblich.

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz greift schließlich dann, wenn der Berufswechsel vor Eintritt des Versicherungsfalls ausschließlich leidensbedingt war, weil etwa die weitere Ausübung des bisherigen Berufs Raubbau an der Gesundheit des Versicherten bedeutet hätte. Maßgeblich bleibt in solchen Fällen allein der vorher ausgeübte Beruf und nicht die neu ergriffene Tätigkeit. Rechtlich nicht zu beanstanden ist ferner, dass die insoweit bestehende Darlegungs- und Beweislast dem Versicherungsnehmer obliegt.

Für die Praxis ist damit festzustellen, dass es im Bereich der Berufsunfähigkeit sinnvoll ist, jede Leistungsablehnung eines Berufsunfähigkeitsversicherers juristisch überprüfen zu lassen und frühzeitig anwaltliche Expertise in Anspruch zu nehmen, da ansonsten die vertraglich zugesicherten Ansprüche des Versicherten vereitelt werden könnten. Es ist für Versicherte und Vermittler daher stets von Vorteil, sich mit dem Ablauf eines typischen BU-Verfahrens vertraut zu machen, bevor Leistungsansprüche geltend gemacht werden. Weitere Informationen und Rechtsprechungen haben wir für Sie unter „Versicherungsrecht“ und themenspezifisch unter „Berufsunfähigkeitsversicherung“ zusammengefasst. Einen Überblick finden Sie auch unter Berufsunfähigkeitsversicherung zahlt nicht.

Zum Autor: Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke

Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.

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