Kommt es bei dem im Rahmen der Verweisung in der Berufsunfähigkeitsversicherung gebotenen Einkommensvergleich auf die Lebensstellung an, die der Versicherungsnehmer bei Eintritt der Berufsunfähigkeit innehatte? Ist das vor Geltendmachung der Berufsunfähigkeit tatsächlich erzielte Einkommen auf den aktuellen Vergleichszeitpunkt fortzuschreiben? Mit diesen Fragen hatte sich das Oberlandesgericht Oldenburg zu befassen gehabt (OLG Oldenburg v. 11.05.2020 – 1 U 15/20).
Der Versicherungsnehmer war ursprünglich als Heizungsmonteur tätig und unterhält bei der beklagten Versicherung eine Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung. Der Versicherer hatte zunächst seine Leistungspflicht wegen Berufsunfähigkeit des Versicherungsnehmers zunächst anerkannt. Doch dann verwies er den Versicherten auf seine nunmehr nach erfolgter Umschulung ausgeübte Tätigkeit als technischer Zeichner. Sodann erfolgte die Leistungseinstellung des Versicherers.
Vorliegend streiten die Parteien darüber, ob diese Verweisung wirksam ist. Das Landgericht hat die Klage des Versicherungsnehmers abgewiesen. Der Versicherer habe den Versicherungsnehmer zu Recht auf seine konkret ausgeübte Tätigkeit als technischer Zeichner verwiesen. Die Voraussetzungen für einen nachträglichen Entfall der Leistungspflicht seien gegeben. Eine Vergleichbarkeit der Lebensstellung scheitere hier nicht daran, dass dem Beruf des Heizungsmonteurs eine höhere Wertschätzung zukäme als dem technischen Zeichner. Ein sozialer Abstieg bestehe nicht. Auch die Einkommensverhältnisse seien gleichwertig. Eine Fortschreibung des ursprünglichen Gehalts habe nicht zu erfolgen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Versicherungsnehmers. Er rügt, das Landgericht habe verkannt, dass nach der maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Ausnahmen von dem Grundsatz, dass keine Lohnfortschreibung zu erfolgen habe, zu machen seien. Eine solche Ausnahme sei hier angesichts des Zeitraums zwischen dem Eintritt des Versicherungsfalls und der auf die Verweisung gestützten Leistungseinstellung von sechs Jahren zu machen. Außerdem habe sich das Gehaltsniveau auf dem Gebiet des Handwerks im Vergleich zu einer Lohnfortschreibung über den Verbraucherpreisindex positiver entwickelt.
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Die Berufung bleibt erfolglos. Das OLG Oldenburg war der Auffassung, dass es unbeachtlich sei, ob der Versicherungsnehmer in seinem ursprünglich ausgeübten Beruf Ausbildungsaufgaben wahrgenommen und gegenüber anderen Mitarbeitern Weisungsbefugnisse gehabt habe. Diesem Umstand komme hier indes keine entscheidende Bedeutung zu, weil sich aus dem Vortrag des Versicherungsnehmers nicht ergebe, dass dieser Umstand seine Lebensstellung geprägt hätte. Deshalb lasse es sich auch nicht argumentieren, die nunmehr ausgeübte Tätigkeit des Versicherungsnehmers bleibe wegen der fehlenden Ausbildungs- und Leitungsfunktion im Sinne einer Unterforderung hinter seinem ursprünglichen Beruf zurück und entspreche deshalb nicht seiner Erfahrung, so das OLG Oldenburg.
Weiter führt das OLG Oldenburg aus, dass die Auffassung des Versicherungsnehmers, gerade in ländlich geprägten Gebieten seien die dem Handwerk zuzuordnenden Berufsgruppen höher einzustufen als die schlichte Tätigkeit als technischer Zeichner, durch nichts belegt sei. Wieso sich ein solches Stufenverhältnis ergeben sollte, erschloss sich dem Senat nicht. Der Einwand des Versicherungsnehmers, hier müsse ausnahmsweise die Gehaltsentwicklung berücksichtigt werden, weil diese im Baugewerbe im Vergleich zum Verbraucherpreisindex deutlich positiver gewesen sei, verfange ebenfalls nicht.
Entscheidend komme es bei dem hier vorzunehmenden Einkommensvergleich auf die Sicherstellung der individuellen bisherigen Lebensumstände an, so das Oberlandesgericht Oldenburg. Die Berufsunfähigkeitsversicherung sichere dagegen nicht die künftige Verbesserung dieser Lebensumstände. Maßgeblich ist also danach die Lebensstellung, die der Versicherungsnehmer bei Eintritt der Berufsunfähigkeit innehatte und nicht die soziale, insbesondere durch die Einkommensverhältnisse geprägte Stellung, die er ohne den Eintritt der Berufsunfähigkeit hätte erwerben können. Im Ergebnis bleibe es deshalb hier bei der Anwendung des Grundsatzes, dass dem Vergleich allein das vor der Geltendmachung der Berufsunfähigkeit tatsächlich erzielte Einkommen zugrunde zu legen ist.
Die Entscheidung des OLG Oldenburg ist nachvollziehbar. Zumal der BGH zu dieser Rechtsfrage bereits geurteilt hat und die Ausnahme, die der BGH offenen gelassen hatte, vorliegend nicht greift (BGH v. 26.06.2019 – IV ZR 19/18). Werden nach einem Anerkenntnis neue Tätigkeiten aufgenommen, so kann der Versicherer im Rahmen des Nachprüfungsverfahrens eine konkrete Verweisung aussprechen. Natürlich nur, wenn durch die neue Tätigkeit die bisherige Lebensstellung gewahrt wird (vgl. OLG Jena v. 21.12.2017 – 4 U 699/13) und keine unzulässige Verweisung auf neu erworbene Fähigkeiten im Nachprüfungsverfahren vorliegt (vgl. LG Nürnberg-Fürth v. 14.12.2017 – 2 O 3404/16). Der BGH hatte sich mit der „bisherigen Lebensstellung“ ebenfalls bereits auseinandergesetzt (BGH v. 20.12.2017 – IV ZR 11/16).
Für die Praxis ist festzustellen, dass es sinnvoll ist, jede Leistungseinstellung eines Berufsunfähigkeitsversicherers juristisch überprüfen zu lassen. Gerade wenn der Versicherte wieder neue Tätigkeiten aufnimmt und tatsächlich ausübt, könnte der Versicherer im Zweifel eine konkrete Verweisung aussprechen, welche wiederum im Einzelfall genauestens juristisch überprüft werden sollte.
Für Vermittler und Versicherte ist es stets von Vorteil, sich mit dem Ablauf eines typischen BU-Verfahrens mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung vertraut zu machen, bevor Leistungsansprüche geltend gemacht werden. Es ist daher sinnvoll frühzeitig anwaltliche Expertise in Anspruch zu nehmen, um etwaige Anspruchsvereitelungen zu vermeiden. Weitere Informationen und Rechtsprechungen haben wir für Sie unter „Versicherungsrecht“ und themenspezifisch unter „Berufsunfähigkeitsversicherung“ zusammengefasst. Einen Überblick finden Sie auch unter Berufsunfähigkeitsversicherung zahlt nicht.
Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.
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