Arglistanfechtung nach Unterzeichnung eines von einem Dritten ausgefüllten Vertrags (OLG Schleswig)

Darf man “blind” ein Antragsformular zum Abschluss eines Pflegetagegeldversicherung unterschreiben? Handelt man arglistig, wenn die Angaben zu den Gesundheitsfragen dann falsch sind? Darüber hatte das Oberlandesgericht Schleswig zu befinden. Auch klärte das Gericht, ob eine Nachfrageobliegenheit für den Versicherer bestanden hat (OLG Schleswig, Urt. v. 04.06.2020 – 16 U 133/19).

Abschluss einer Pflegetagegeldversicherung

Die klagende Versicherungsnehmerin unterhält mehrere Versicherungen bei der beklagten Versicherung. 2011 fragte die Tochter der Versicherungsnehmerin bei dem Versicherungsagenten der Beklagten telefonisch an, ob die Möglichkeit zum Abschluss einer Pflegetagegeldversicherung für die Versicherungsnehmerin bestünde. Die Versicherungsnehmerin bekam sodann zwei Tarifvorschläge. Nach Auswahl eines Tarifs füllte ihre Tochter den Antrag aus. In dem Formular wurden alle drei Gesundheitsfragen mit „Nein“ beantwortet.

Die Versicherungsnehmerin unterschrieb den Antrag und sandte ihn zurück. Im Jahre 2017 entwickelte sich bei ihr eine Demenz. Für sie wurden so dann Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung beantragt. Auf Grundlage eines Gutachtens wurde ihr danach eine Pflegebedürftigkeit nach den Pflegegrad 2 zuerkannt.

Nunmehr beantragte die Versicherungsnehmerin Leistungen aus der Pflegetagegeldversicherung. Im Rahmen der Leistungsprüfung hat der Versicherer sich von der Hausärztin Gesundheitsinformation zukommen lassen. Aus einem Fragebogen der Beklagten, die von der Hausärztin ausgefüllt wurde, ging hervor, dass die Versicherungsnehmerin an einer langwierig andauernden rheumatischen Erkrankung leidet, die erstmals 2004 diagnostiziert wurde, also bei Antragstellung schon vorlag.

Daraufhin erklärte der Versicherer die Anfechtung des Versicherungsvertrags wegen arglistiger Täuschung, hilfsweise den Rücktritt von dem Vertrag und begründete dies mit den falschen Angaben über den Gesundheitszustand.

OLG Schleswig sieht Anzeigepflicht als verletzt

Das OLG Schleswig hat entschieden, dass der Klägerin keine Leistungsansprüche aus der streitgegenständlichen Pflegetagegeldversicherung zustehen, weil diese durch den Versicherer wegen arglistiger Täuschung wirksam angefochten wurde.

Das Anfechtungsrecht des Versicherers

Der Versicherer konnte den Versicherungsvertrag wegen arglistiger Täuschung wirksam anfechten. Dieses Recht habe er, wenn der Versicherungsnehmer mit der wissentlich falschen Angabe von Tatsachen bzw. dem Verschweigen anzeige- und offenbarungspflichtiger Umstände auf die Entschließung des Versicherers, seinen Versicherungsantrag anzunehmen, Einfluss nehmen will.  Hinzu komme der Umstand, dass dem Versicherten bewusst sein müsse, dass der Versicherer möglicherweise seinen Antrag nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen annehmen werde, wenn er wahrheitsgemäße Angaben machen würde.

Nach § 19 Abs. 1 VVG habe der Versicherungsnehmer die ihm bekannten Gefahrumstände, die für den Entschluss des Versicherers, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, erheblich sind und nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat, dem Versicherer anzuzeigen. Unstreitig habe die Klägerin im Streitfall das ausgefüllte Formular, in dem sämtliche Fragen zu etwaigen Vorerkrankungen verneint waren, unterzeichnet. Dieses jedoch ohne die fehlerhafte Angabe zum Bestehen einer in dem Formular genannten Vorerkrankung zu korrigieren und dem Versicherer die rheumatische Erkrankung mitzuteilen. Nach Auffassung des OLG Schleswig habe die Versicherungsnehmerin damit gegen ihre Offenbarungspflicht verstoßen. Letztlich sei die Angabe einer derartigen Erkrankung für den Entschluss des Versicherers, den Antrag anzunehmen, erheblich gewesen. Dies folge bereits daraus, dass der Versicherer ausdrücklich nach bestehenden entzündlichen Gelenkerkrankungen gefragt habe, so das Gericht.

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„Blinde“ Unterzeichnung eines von einem Dritten ausgefüllten Vertrags

Die Klägerin könne sich dabei nicht darauf berufen, dass ihr die Gesundheitsfragen auch nicht deshalb nicht zur Kenntnis gelangt seien, weil ihre Tochter eigenmächtig ohne Rückfragen diese Fragen beantwortet haben könnte. Nach Ansicht des Oberlandesgerichts stehe dem bereits entgegen, dass die Tochter der Klägerin das Antragsformular der Klägerin übersandte und diese damit zuhause hinreichend Gelegenheit hatte, die in Textform gestellten Fragen in Ruhe zur Kenntnis zu nehmen.

Auch komme es auf die Erwägungen der Versicherungsnehmerin nach der Anwendbarkeit der „Auge- und Ohr-Rechtsprechung“ des BGH (Beschl. v. 9. 3. 2011 − IV ZR 130/09) nicht an, behauptet die Klägerin doch selbst nicht, gegenüber der Zeugin, ihre Tochter, korrekte Angaben zu ihrem gegenwärtigen Gesundheitszustand gemacht zu haben. Nach Ansicht des OLG Schleswig gelte etwas anderes auch nicht im Hinblick auf die zuvor gegenüber der Versicherungsagentur beantworteten Gesundheitsfragen im Zusammenhang mit der Beantragung einer Unfallversicherung. Es kann weder dem Versicherer noch den Mitarbeitern der Versicherungsagentur zugemutet werden, dass ihm, beziehungsweise ihr diese mehrere Jahre zuvor in anderen Zusammenhang gemachten Angaben noch präsent sind. Es sei ferner kein Grund dafür ersichtlich, dass der Versicherer angesichts der den Versicherungsnehmer treffenden Verpflichtung zur wahrheitsgemäßen und vollständigen Erklärung frühere und spätere Angaben miteinander zu vergleichen habe.

Das Erfordernis des Täuschungsvorsatzes

Der Senat führte weiterhin aus, dass allein vorsätzliche falsche Angaben den Vorwurf der Arglist nicht begründen. Denn der daneben zu fordernde Täuschungsvorsatz setze die Erkenntnis des Versicherungsnehmers Voraus, der Versicherer könne durch seine falschen oder unvollständigen Angaben in seiner Vertrags Entscheidung beeinflusst werden. Der Vorsatz des Versicherungsnehmers müsse sich auf die Täuschungshandlung, die Irrtumserregung und die dadurch erfolgte Willensbeeinflussung erstrecken. Selbst wenn der Versicherungsnehmer gutgläubig im Hinblick auf die Richtigkeit der Angaben sei, liege jedoch Arglist vor, wenn der Erklärende „ins Blaue hinein“ objektiv unrichtige Angaben macht.

Im vorliegenden Fall sei der die Arglist begründende Vorwurf in dem Umstand zu erkennen, dass die Versicherungsnehmerin im Bewusstsein eigener Unkenntnis das Antragsformular „blind“ unterzeichnet und damit die für sie erkennbare Vorstellung des Versicherers ausgenutzt habe, dass im redlichen Geschäftsverkehr Erklärungen „ins Blaue hinein“ nicht abgegeben werden, der Erklärungsempfänger also darauf vertrauen könne, dass die Erklärung auf zuverlässiger Tatsachengrundlage abgegeben wurde, so das Gericht. Das gelte auch dann, wenn der Erklärende den Inhalt seiner Erklärung zur Kenntnis genommen habe und den Inhalt billige. Letztendlich nehme nach Ansicht des Gerichts ein Versicherungsnehmer, der objektiv falsche Angaben „ins Blaue hinein“ macht, deren Unrichtigkeit zumindest billigend in Kauf.

Dasselbe gelte für denjenigen, der ein von einem Dritten vorausgefülltes Formular „blind“ unterschreibt. Dafür spreche insbesondere auch, dass die Versicherungsnehmerin, die bereits im April 2008 einen Antrag auf Abschluss einer Unfallversicherung unterschieben hatte, gewusst haben müsse, dass bei der Beantragung einer Versicherung, bei der es für den Versicherer zur Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer Inanspruchnahme entscheidend auf den Gesundheitszustand des Versicherungsnehmers ankomme, Gesundheitsfragen gestellt werden. Dies sei zudem bereits bei einem flüchtigen Blick auf das verwendete Formular ohne weiteres erkennbar, so das Oberlandesgericht.

Keine Verletzung der Nachfrageobliegenheit

Das Oberlandesgericht stellte des Weiteren fest, dass die Beklagte entgegen der Annahme der Klägerin keine Nachfrage nach Übersendung des Antragsformulars wegen erkennbar unvollständiger, unklarer oder missverständlicher Angaben stellen musste. Es sei bereits fernliegend, dass der Versicherer allein wegen des Alters der Versicherungsnehmerin bei Antragstellung die Angaben zu fehlenden Vorerkrankung hätte in Zweifel ziehen müssen. Letztlich stehe die Verletzung der Nachfrageobliegenheit der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung aber ohnehin nicht entgegen, abschließend das OLG Schleswig.

Fazit und Hinweis für die Praxis

Die Entscheidung des OLG Schleswig kann im Ergebnis überzeugen. Sie zeigt erkennbar, dass der Antrag zum Abschluss einer Versicherung und die Beantwortung der Fragen in dem vom Versicherer zur Verfügung gestellten Formular stets einen Schwerpunkt im Rahmen der Geltendmachung von Ansprüchen aus einer Versicherung darstellen. Es ist dabei zwingend notwendig, auch einen von einem Dritten ausgefüllten Antrag zunächst konsequent zu prüfen. Zu beachten ist dies auch, wenn auf Seiten des Versicherers ein Versicherungsagent tätig wird.

Es bleibt damit festzuhalten, dass es unabdingbar ist, jeden Versicherungsfall anwaltlich überprüfen zu lassen und frühzeitig eine kompetente Beratung durch versierte Fachanwälte für Versicherungsrecht in Anspruch zu nehmen, um eine spätere Leistungsablehnung im Rahmen der vertraglich zugesicherten Ansprüche des Versicherten bestenfalls zu vermeiden.

Weitere Informationen und Rechtsprechungen haben wir für Sie unter „Versicherungsrecht“  und „Pflegetagegeldversicherung“ zusammengefasst.

Zum Autor: Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke

Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.

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