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Verweisung eines Dachdeckers im Nachprüfungsverfahren der Berufsunfähigkeitsversicherung (OLG Köln)

Das Oberlandesgericht Köln hatte darüber zu befinden, ob die Leistungsverpflichtung einer Berufsunfähigkeitsversicherung erlischt, wenn ein leistungsberechtigter damaliger Dachdeckergeselle nun eine Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter ausübt. Dabei hatte das Gericht auch zu klären, ob diese Tätigkeit deutlich geringere Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert und hinsichtlich der Vergütung und Wertschätzung unter dem Niveau des bislang ausgeübten Berufs als Dachdeckergeselle liegt (OLG Köln, Urt. v. 15.01.2021 – 20 U 29/20).

Der Fall vor dem OLG Köln

Der klagende Versicherungsnehmer unterhält mit Versicherungsbeginn zum 1. Juli 2009 bei dem beklagten Versicherer eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Er übte eine Tätigkeit als Dachdeckergeselle aus. Nach § 1 der dem Versicherungsvertrag zugrunde liegenden allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) ist der Versicherer verpflichtet, dem Versicherten beim Vorliegen bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit eine vereinbarte Rente zu zahlen und diesen von der Beitragszahlungspflicht zu befreien. Anstelle von § 2 (1), Abs. 1 AVB, der die Möglichkeit einer abstrakten Verweisung auf eine andere Tätigkeit vorsieht, gelten Besondere Bestimmungen zum Versicherungsschein (BB), in denen es heißt:

  1. Wir verzichten […] bei Berufsunfähigkeit auf die abstrakte Verweisung.

1.1. § 2 Absätze 1 – 3 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die selbstständige Berufsunfähigkeitsversicherung […] erhalten folgende Fassung:

Absatz 1 bzw. Absatz 5 wird ersetzt durch:

Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechenden Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mindestens sechs Monate ununterbrochen außerstande ist, ihren zuletzt ausgeübten Beruf – so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war – auszuüben. Übt die versicherte Person eine andere ihrer Ausbildung, Erfahrung und bisherigen    Lebensstellung entsprechende berufliche Tätigkeit konkret aus, liegt keine Berufsunfähigkeit vor.

§ 2 (1), Abs. 2 AVB lautet:

Als eine der Ausbildung und den Fähigkeiten sowie der bisherigen Lebensstellung in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht entsprechende Tätigkeit wird dabei nur eine solche Tätigkeit angesehen, die keine deutlich geringeren Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert und auch hinsichtlich Vergütung und Wertschätzung nicht spürbar unter dem Niveau des bislang ausgeübten Berufs liegt.

Nach einer operativen Versteifung der Lendenwirbelsäule beim Kläger erkannte der Versicherer seine Leistungspflicht ab November 2013 an und erbrachte die vereinbarten Leistungen. Ende Juli 2016 schloss der Versicherte eine Umschulung zum Groß- und Einzelhandelskaufmann in der Firma Y erfolgreich ab. Sodann war der Versicherte zwei Jahre bei der Firma X, in der er seinerzeit als Dachdeckergeselle arbeitete, nunmehr als kaufmännischer Angestellte in Festanstellung tätig. Seit September 2019 ist der Versicherungsnehmer mittlerweile bei der Firma Z angestellt. Nach einem erfolgten Nachprüfungsverfahren (weiter Infos siehe auch Das Nachprüfungsverfahren) kündigte der Versicherer eine Leistungseinstellung unter Verweisung auf die bei der Firma Y ausgeübte Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter an.

Der Versicherungsnehmer vertritt die Auffassung, dass der Versicherer durch die geleisteten Zahlungen die Fortgeltung seiner Leistungspflicht bindend anerkannt habe. Unabhängig davon sei der Versicherer zur Erbringung der Versicherungsleistung verpflichtet, weil seine ursprüngliche Tätigkeit als Dachdecker mit der zur Zeit der Leistungseinstellung ausgeübten Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter nicht gleich zu stellen sei. Vor Eintritt der Berufsunfähigkeit sei er als Vorarbeiter und Fachkraft für Arbeitssicherheit eingesetzt gewesen, habe Überstundenzahlungen und Schlechtwetterzulagen erhalten. Sein früher erzieltes Nettoeinkommen, auf das es maßgeblich ankomme, sei höher gewesen als dasjenige aus seiner Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter.

Der Versicherer hat die Ansicht vertreten, dass die Voraussetzung einer Berufsunfähigkeit jedenfalls deshalb entfallen seien, weil der Kläger nunmehr eine vergleichbare berufliche Tätigkeit im Sinne von § 2 AVB ausübe.

Das Landgericht hat die Klage des Versicherten abgewiesen. Er habe nach erfolgreichem Abschluss seiner Umschulungsmaßnahme und der daraufhin erfolgten Festanstellung als kaufmännischer Angestellter keinen Anspruch auf Leistungen aus der vereinbarten Berufsunfähigkeitsversicherung mehr. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Versicherungsnehmer mit der Berufung zum OLG Köln.

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Die Entscheidung des OLG Köln

Die Berufung des Versicherten hat in der Sache keinen Erfolg. Das Landgericht habe die Klage im Ergebnis, wenngleich auf mangelnder Tatsachengrundlage, zu Recht abgewiesen. Der Versicherer sei berechtigt gewesen, die Leistungen aus der Versicherung einzustellen, weil der Versicherungsnehmer eine andere seiner Ausbildung, Erfahrung und bisherigen Lebensstellung entsprechende berufliche Tätigkeit ausgeübt habe.

Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter

Die ab Oktober 2017 vom Versicherten ausgeübte Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter bei der Firma Y entsprach nach Auffassung des Gerichts seiner Ausbildung und Erfahrung sowie in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht seiner bisherigen Lebensstellung. Sie habe keine deutlich geringeren Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert. Auch lag sie hinsichtlich der Vergütung und Wertschätzung nicht spürbar unter dem Niveau des bislang ausgeübten Berufs als Dachdeckergeselle.

“Zuletzt ausgeübte Tätigkeit prägt bisherige Lebensstellung”

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der der Senat folge, werde die bisherige Lebensstellung der versicherten Personen vor allem durch die von ihr zuletzt ausgeübte Tätigkeit geprägt. Sie werde von der Qualifikation ihrer Erwerbstätigkeit bestimmt, die sich wiederum daran orientiere, welche Kenntnisse und Erfahrungen die ordnungsgemäße und sachgerechte Ausübung der Tätigkeit voraussetzt. Eine Vergleichstätigkeit, auf die verwiesen werden könne, sei dann gegeben, wenn die neue Erwerbstätigkeit keine deutlich geringeren Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert und in ihrer Vergütung sowie in ihrer sozialen Wertschätzung nicht spürbar unter das Niveau des bislang ausgeübten Berufs absinkt.

Die Berufsausübung vor Eintritt des Versicherungsfalls liefere die Vergleichsmaßstäbe dafür, ob die neue Tätigkeit der bisherigen Lebensstellung entspricht. Daher müsse bekannt sein, wie sie konkret ausgestaltet war, welche Anforderungen sie an den Versicherten stellte, welche Fähigkeiten sie voraussetzte, welches Einkommen sie ihm sicherte und wie sich seine beruflichen Entwicklungsmöglichkeit real darstellten. Dasselbe gelte für den Verweisungsberuf.

Nach Anhörung des Versicherungsnehmers im Rahmen der zwingend erforderlichen Sachaufklärung zu seiner beruflichen Tätigkeit bis zum Eintritt des Versicherungsfalls und zu der ausgeübten Verweisungstätigkeit, kam das OLG Köln zum Ergebnis, dass unter Zugrundelegung der Angaben des Versicherten keine entscheidenden Unterschiede dieser Tätigkeiten in Bezug auf die erforderliche Qualifikation, das erzielte Einkommen und die soziale Wertschätzung vorliegen.

Vergleich der Tätigkeiten

Im Rahmen eines Vergleichs dieser beiden Tätigkeiten vermöge der Senat nicht zu erkennen, dass der ursprüngliche Beruf des Versicherten als Dachdeckergeselle im Vergleich zu seinem späteren Beruf als kaufmännischer Angestellter hinsichtlich der erforderlichen Qualifikation, Ausbildung und Erfahrung oder der sozialen Wertschätzung spürbar überlegen wäre.

Wie der ursprünglich ausgeübte Beruf sei der neue Beruf als kaufmännischer Angestellter ein Ausbildungsberuf. Das OLG Köln teile auch nicht die Einschätzung des klagenden Versicherungsnehmers, dass seiner Tätigkeit als Dachdeckergeselle gegenüber seiner späteren Beschäftigung als kaufmännischer Angestellter eine besondere soziale Wertschätzung zukomme. Der Umstand, dass Fachkräfte auf dem Bau wegen des Baubooms dringend gesucht werden, begründe für sich genommen keine besondere soziale Wertschätzung. Gleiches gelte, soweit der Kläger argumentiert, die kaufmännische Tätigkeit sei ohne die Arbeit eines Dachdeckers wertlos.

Es komme auch nicht darauf an, ob die Kunden den Versicherten als Dachdecker besonders geschätzt haben. Denn in dem anzustellen im Vergleich gehe es nicht um die individuelle Wertschätzung, sondern um das Ansehen, das der Beruf als solcher dem verleihe, der ihn ausübt, so das Oberlandesgericht. Ferner sei zu fragen, ob noch eine abstrakt generellen Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Kriterien ein sozialer Abstieg festzustellen ist. Das sei hier nach Auffassung des Senats nicht der Fall. In der Gesellschaft werde der Beruf des kaufmännischen Angestellten gegenüber der Tätigkeit eines Dachdeckergesellen nicht als unterwertig angesehen.

Keine konkretisierte Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeit dargetan

Der Versicherungsnehmer habe auch keine konkretisierte Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeit dargetan, so das Gericht. Zu berücksichtigen seien in dieser Hinsicht nur hinreichend gesicherte Aufstiegschancen im Beruf, nicht aber denkbare Perspektiven, zu deren Umsetzung – wie hier – noch nichts unternommen worden ist. Lediglich denkbare Entwicklungsmöglichkeiten im bisherigen Beruf, auf den es im Ausgangspunkt ankomme, die Lebensstellung dann nicht prägen können, wenn offen ist, ob der Versicherungsnehmer sie auch hätte verwirklichen können, führt das OLG Köln weiter aus.

Der Einkommensvergleich

Ferner ergebe der Einkommensvergleich nicht, dass der Kläger durch Aufnahme der Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter bei seiner früheren Arbeitgeberin im Vergleich zu seiner Ursprungstätigkeit als Dachdeckergeselle erhebliche finanzielle Einbußen erlitten habe. Allgemein sei anerkannt, dass gewisse Einbußen hinzunehmen sind. Auch sei die Berufsunfähigkeitsversicherung keine Einkommensversicherung. Sie knüpfe weder in der Höhe ihrer Leistungen an das bei Vertragsabschluss gegebene Einkommensniveau an, noch verlange sich als nachvertragliche Obliegenheit die Anzeige etwaiger grundlegender Änderungen der Einkommensverhältnisse zur Anpassung des Versicherungsschutzes. Daher Ab wann eine Einkommenseinbuße nicht mehr zumutbar sei, so dass eine Verweisung mit der Folge der Leistungsfreiheit des Versicherers ausscheide, sei stets eine Frage des Einzelfalls.

Das OLG Köln vertritt die Auffassung, dass Vergleichsberechnungen sowohl anhand des Netto- als auch anhand des Bruttoeinkommens vorgenommen werden können. Welche Vergleichsmethode dem Maßstab der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse am besten gerecht werde, entscheide sich nach den Umständen des Einzelfalls. Da sich im Streitfall die Nettoeinkommen aufgrund der unterschiedlichen Besteuerung nur schwer vergleichen lasse, aber auch weil sich aufgrund der geringen Zahl der vom Kläger vorgelegten Einzelgehaltsabrechnungen die Nettoeinkommen nur schwer ermitteln lasse, halte der Senat vorliegend die vom Landgericht angewandte Brutto-Vergleichsmethode für angemessen. Dies sei für die Entscheidung des Falles aber nicht ausschlaggebend, so der Senat.

Praxishinweis

Die Entscheidung des OLG Köln zeigt, dass jede Leistungseinstellung einer Berufsunfähigkeitsversicherung zwingend juristisch überprüft werden sollte. Bereits zu Beginn des Verfahrens, nämlich beim Leistungsantrag, müssen die Voraussetzungen einer Berufsunfähigkeit herausgearbeitet werden. Insbesondere sollten dabei die Voraussetzungen einer Tätigkeitsverweisung genauestens geprüft werden.

Daher ist es für Vermittler und Versicherte von Vorteil, sich mit dem Ablauf eines typischen BU-Verfahrens mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung vertraut zu machen, bevor Leistungsansprüche geltend gemacht werden. Es ist daher sinnvoll frühzeitig anwaltliche Expertise in Anspruch zu nehmen, um etwaige Anspruchsvereitelungen zu vermeiden. Weitere Informationen und Rechtsprechungen haben wir für Sie unter „Versicherungsrecht“ und themenspezifisch unter „Berufsunfähigkeitsversicherung“ zusammengefasst. Einen Überblick finden Sie auch unter Berufsunfähigkeitsversicherung zahlt nicht.

Zum Autor: Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke

Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.

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