Muss ein Versicherungsnehmer, der Berufsunfähigkeit behauptet, seine bisherige Arbeit konkret dahin beschreiben, dass die anfallende Tätigkeit nach Art, Umfang und Häufigkeit für einen Außenstehenden nachvollziehbar wird? Über diese Frage zur Tätigkeitsfeststellung hatte der Bundesgerichtshof abermals zu befinden (BGH, Urt. v. 29.11.1995 – IV ZR 233/94).
Der Kläger ist Versicherungsnehmer und unterhält bei der beklagten Versicherung sei 1987 eine Lebensversicherung mit automatischer Anpassung unter Einschluss einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (BUZ). Letzterer liegen Bedingungen zugrunde, die bezüglich des Eintritts des Versicherungsfalles den Musterbedingungen für die BUZ aus dem Jahre 1975 entsprechen.
Der 1946 geborene Versicherte war seit seinem Schulabschluss im Jahre 1962 zunächst im Getränkehandel seiner Eltern tätig. Seit 1977 betrieb er einen eigenen Getränkeabholmarkt, arbeitete daneben aber auch weiterhin im elterlichen Betrieb mit. 1987 stellte er diese Mitarbeit ein und führte nur noch seinen Getränkeabholmarkt selbständig fort, und zwar seit 1986 in von ihm erweiterten Geschäftsräumen. Er hat geltend gemacht, infolge der körperlichen Belastung bei Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit, insbesondere durch das Tragen von Getränkekisten, seien bei ihm seit 1989 heftige Schmerzen in der Leistengegend und im Rücken aufgetreten, die sich ständig verstärkt hätten. Die von ihm ausgeübte Tätigkeit habe zu 90 % aus Arbeiten unter schwerer körperlicher Belastung bestanden, denen er schließlich nicht mehr gewachsen gewesen sei. Die Arbeit habe zu krankhaften Veränderungen der Wirbelsäule geführt. Deshalb habe er im April 1990 die Tätigkeit als selbständiger Getränkehändler aufgeben müssen.
Der Versicherer hat die geltend gemachten Leistungen abgelehnt. Er ist der Auffassung, bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit liege nicht vor. Bei der Tätigkeit des Klägers in seinem Getränkehandel falle schwere körperliche Arbeit im behaupteten Umfang nicht an. Ferner sei ihm auch eine Umorganisation seines Betriebs zuzumuten.
Das Landgericht hat der Klage des Versicherten im Wesentlichen stattgegeben. Das Berufungsgericht hat auf die Berufung der beklagten Versicherung den von dem LG zuerkannten Rentenbetrag geringfügig herabgesetzt. Mit ihrer Revision zum BGH verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiter.
Die Revision der Beklagten war erfolgreich. Es führe zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, soweit zum Nachteil des Versicherers erkannt worden ist, und in diesem Umfang zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Das Berufungsgericht habe angenommen, dass der Kläger den Eintritt einer Berufsunfähigkeit von mindestens 50 % ab April 1990 bewiesen habe. Dazu habe es ausgeführt: Für die Beurteilung, ob beim Versicherten bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit eingetreten ist, komme es zunächst darauf an, die konkrete Ausgestaltung des zuletzt ausgeübten Berufs und die sich aus dessen Ausübung ergebenden Anforderungen festzustellen. Diese Feststellungen seien sodann einem medizinischen Sachverständigen als Grundlage seiner Gutachtenerstattung vorzugeben. Auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens lasse sich feststellen, dass der Kläger in seinem zuletzt ausgeübten Beruf als selbständiger Getränkehändler zu mindestens 50 % berufsunfähig sei.
Nach Ansicht des Senats halte dies rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Rechtsfehlerhaft habe es bereits das LG unterlassen, dem medizinischen Sachverständigen vorzugeben, von welchem außermedizinischen Sachverhalt dieser bei der Beurteilung der Frage auszugehen hatte, ob oder in welchem Ausmaß der Versicherungsnehmer in seiner Fähigkeit eingeschränkt ist, seine bisherige berufliche Tätigkeit weiterhin auszuüben. Deshalb biete das Sachverständigengutachten keine tragfähige Grundlage für die Annahme des Berufungsgerichts, dass die versicherte Person in ihrer zuletzt ausgeübten beruflichen Tätigkeit als berufsunfähig zu betrachten sei. Die Annahme beruhe vielmehr auf einer unzulänglichen Beweisaufnahme, so der BGH.
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Nach der Rechtsprechung des Senats komme es bei der Beurteilung, ob der Versicherte bedingungsgemäß berufsunfähig geworden ist, zunächst darauf an, wie sich seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen in seiner konkreten Berufsausübung auswirken. Daher müsse bekannt sein, wie das Arbeitsfeld des Versicherten tatsächlich beschaffen ist und welche Anforderungen es an ihn stellt. Insoweit sei es Sache desjenigen, der den Eintritt von Berufsunfähigkeit geltend machen will, substantiiert vorzutragen und im Fall des Bestreitens Beweis für sein Vorbringen anzutreten. Dazu genüge als Sachvortrag nicht die Angabe des Berufstyps und der Arbeitszeit, vielmehr müsse eine ganz konkrete Arbeitsbeschreibung verlangt werden, mit der die anfallenden Tätigkeiten ihrer Art, ihres Umfangs wie ihrer Häufigkeit nach für einen Außenstehenden nachvollziehbar werden, so der Senat.
Anschließend sei es Sache des Gerichts dann zu entscheiden, ob zunächst eine Beweisaufnahme zu dem vorgetragenen Beruf in seiner konkreten Ausgestaltung geboten ist, deren Ergebnis einem anschließend einzuschaltenden Sachverständigen vorzugeben ist. Jedenfalls müsse der Sachverständige wissen, welchen – für ihn unverrückbaren – Sachverhalt er zugrunde zu legen hat.
Im Streitfall habe das Berufungsgericht diese Grundsätze nach Maßgabe seiner Erwägungen zwar nicht verkannt, es gehe aber zu Unrecht davon aus, ihnen sei auch im vorliegenden Verfahren ausreichend Rechnung getragen worden.
Weiter führte der BGH aus, dass das LG zu den Behauptungen des Versicherten über die Ausgestaltung seiner Tätigkeit als selbständiger Getränkehändler zunächst durch Vernehmung von Zeugen Beweis erhoben habe. Das LG habe es aber unterlassen, bei dem danach erforderten Gutachten des medizinischen Sachverständigen diesem vorzugeben, welche Feststellungen zu den Einzelheiten der konkreten Berufsausübung die Grundlage des Gutachtens bilden sollten, welche Tätigkeiten des Klägers (nach Art, Dauer und Häufigkeit) er seiner Beurteilung, ob oder in welchem Maße der Kläger diese gesundheitsbedingt weiterhin ausüben kann, zugrunde zu legen hatte. Es habe sich mit seiner dem Sachverständigen vorgegebenen Beweisfrage vielmehr auf die allgemeine Umschreibung der beruflichen Tätigkeit des Versicherungsnehmers mit “selbständiger Getränkehändler” beschränkt.
Außerdem sei der Versicherte seiner Vortragslast nur unvollständig nachgekommen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts schließe die bisherige Berufsausübung durch den Versicherten auch Tätigkeiten ein, mit denen ein ständiges Heben und Tragen von schweren Lasten nicht notwendig einhergeht, so etwa Fahrten mit dem Lkw zu Lieferanten oder auch Be- und Entladearbeiten, soweit diese unter Einsatz von technischen Hilfsmitteln vorgenommen werden können. Dass der Kläger auch Tätigkeiten ohne schwere körperliche Belastungen gesundheitsbedingt nicht mehr ausüben kann, habe er selbst nicht behauptet, stellte der Senat fest.
Er genüge seiner Vortragslast für den Eintritt bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit im zuletzt ausgeübten Beruf aber nur dann vollständig, wenn er im Einzelnen und substantiiert auch dazu vorträgt, in welchem Umfang solche Tätigkeiten vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigungen von ihm wahrgenommen worden sind, welche Zeit sie regelmäßig in Anspruch genommen haben und in welcher Häufigkeit sie angefallen sind. Denn auch insoweit geht es um die vom Kläger vorzutragende und zu beweisende Ausgestaltung seines konkret ausgeübten Berufs, der bedingungsgemäß den Ausgangspunkt für die Beurteilung gesundheitlich bedingter Berufsunfähigkeit abgibt.
Die Entscheidung des BGH kann im Ergebnis überzeugen und zeigt, dass jede Leistungseinstellung einer Berufsunfähigkeitsversicherung zwingend juristisch überprüft werden sollte. Bereits zu Beginn des Verfahrens, nämlich beim Leistungsantrag, müssen die Voraussetzungen einer Berufsunfähigkeit herausgearbeitet werden. Insbesondere ist es dabei unerlässlich, dass der Versicherte der Pflicht zur konkreten Tätigkeitsbeschreibung in gesunden Tagen nachkommt. Liegt eine solche konkrete Arbeitsbeschreibung nicht vor, wird der Versicherte möglicherweise mit einer Leistungsablehnung rechnen müssen.
Daher ist es für Vermittler und Versicherte von Vorteil, sich mit dem Ablauf eines typischen BU-Verfahrens mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung vertraut zu machen, bevor Leistungsansprüche geltend gemacht werden. Es ist daher sinnvoll frühzeitig anwaltliche Expertise in Anspruch zu nehmen, um etwaige Anspruchsvereitelungen zu vermeiden. Weitere Informationen und Rechtsprechungen haben wir für Sie unter „Versicherungsrecht“ und themenspezifisch unter „Berufsunfähigkeitsversicherung“ zusammengefasst.
Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.
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