Darf der für unrichtig gehaltene Sachverhalt, nachdem der Versicherungsnehmer ein Sachverständigengutachten angegriffen hat, das die Berufsunfähigkeit verneint, durch Zeugenvernehmung und Einholung eines berufskundigen Gutachtens überprüft werden oder ist dem Gericht eine Aufklärung des außermedizinischen Sachverhalts verwehrt? Sind bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit die zum Beruf gehörenden Verrichtungen nur einzeln oder auch im Zusammenhang mit denen zu bewerten, mit denen sie einen einheitlichen Lebensvorgang bilden? Über diese Fragen hatte der Bundesgerichtshof zu befinden (BGH, Beschluss v. 27.02.2008 – IV ZR 45/06).
Der Versicherungsnehmer, der bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit als beamteter Postzusteller tätig war, begehrt Versicherungsleistungen aus einer bei der Beklagten gehaltenen Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (BUZ). Er macht geltend, wegen eines Wirbelsäulenleidens bedingungsgemäß zu mindestens 50% berufsunfähig zu sein. Der vom Landgericht bestellte medizinische Sachverständige, der Facharzt für Orthopädie Dr. S, kam nach Untersuchung des Versicherungsnehmers zu der Einschätzung, dieser sei in seiner Tätigkeit als Postzusteller lediglich zu 30% berufsunfähig.
Das Landgericht hat die Klage des Versicherten daraufhin abgewiesen. Die Berufung des Klägers wurde zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Versicherungsnehmer sein Klagebegehren weiter.
Auf die Revision des Klägers wurde das Berufungsurteil aufgehoben. Der BGH wies die Sache an das Berufungsgericht zurück. Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg gehabt. Nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme, so das Berufungsgericht, seien dem Kläger ganztägig leichte bis mittelschwere Belastungen zumutbar. Zwar seien für den Berufsalltag des Klägers typische Bewegungsabläufe aufgrund der Erkrankung seiner Wirbelsäule mit Rückenschmerzen verbunden, so beispielsweise Körperbewegungen mit endgradiger Rotation, Aufrichten des Körpers nach Vorneigen mit gestreckten Kniegelenken und Tragen von Lasten mit einem Gewicht von über 5 Kilogramm. Der Sachverständige Dr. S. habe jedoch überzeugend dargelegt, dass sich die meisten dieser Bewegungsabläufe ebenso wie schmerzhafte Zwangshaltungen, etwa beim Einlegen von Postsendungen in tiefer liegende Briefschlitze, durch Umstellungen in den jeweiligen Bewegungsabläufen vermeiden ließen. Deshalb bedürfe es nach Ansicht des Berufungsgerichts der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens insoweit nicht.
Die Beschwerde des Klägers rüge in diesem Zusammenhang zu Recht, dass das Berufungsgericht seinen Antrag auf Sachverständigenbeweis übergangen hat. Damit habe es zugleich dessen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt, so der BGH.
Die Beurteilung, ob der Versicherte bedingungsgemäß berufsunfähig ist, erfordere nach der Rechtsprechung des Senats, dass die konkrete Ausgestaltung des von dem Versicherten zum Zeitpunkt des Versicherungsfalles ausgeübten Berufes und die sich aus dieser Berufsausübung ergebenden Anforderungen festgestellt werden. Diese Feststellungen zum unverrückbaren außermedizinischen Sachverhalt seien einem medizinischen Sachverständigen als Grundlage seiner Gutachtenerstattung vorzugeben. Kommt es darauf an, wie sich bestimmte medizinisch festgestellte Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit auf die zuletzt konkret ausgeübte Berufstätigkeit des Versicherten auswirken, seien hierzu gegebenenfalls Zeugen und ein berufskundiger Sachverständiger zu hören.
Weiter führt der Senat aus, dass der Versicherte schon im ersten Rechtszug unter Beweisantritt vorgetragen habe, dass das Tragen und Bewegen von Gewichten über 5 Kilogramm eine wesentliche, unverzichtbare und damit prägende Einzelverrichtung seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Postzusteller darstelle. Er habe regelmäßig Ablagebeutel und Behälter sowie Zustelltaschen zu tragen, die bis zu 20 Kilogramm schwer sein könnten. Ferner habe er eine Tätigkeitsbeschreibung vorgelegt, in der ausdrücklich die Rede davon ist, dass die Tätigkeit als Postzusteller ein hohes Maß an körperlicher Belastbarkeit voraussetze, weil Gewichte bis zu 20 Kilogramm und im Zusammenhang mit dem Ladungsaustausch in Einzelfällen auch bis zu 30 Kilogramm ohne die Möglichkeit des Einsatzes von Hilfsmitteln zu heben und zu tragen seien. Im Berufungsrechtszug habe der Kläger diesen Vortrag wiederholt und erneut die Einholung eines berufskundigen Sachverständigengutachtens beantragt.
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Der Senat meint, dass das Berufungsgericht über diesen Beweisantritt nicht hätte hinweggehen dürfen, sondern eine Aufklärung des außermedizinischen Sachverhalts hätte erfolgen müssen. Dass das Berufungsgericht für die Beurteilung dieser Fragen selbst über die erforderliche Sachkunde verfügte, ergebe sich aus den Urteilsgründen nicht. Deshalb hätte es zunächst durch Vernehmung der vom Kläger als Zeugin benannten Filialleiterin der Deutschen Post AG dessen Beweisbehauptungen nachgehen müssen. Sodann hätte es erwägen müssen, ob die vom Kläger ebenfalls beantragte Einholung eines berufskundigen Sachverständigengutachtens geboten war. Der Sachverständige hätte, wie die Beschwerde zu Recht herausstellt, die dem Kläger in seinem Beruf konkret abverlangten Verrichtungen nicht nur einzeln, sondern auch im Zusammenhang mit denjenigen bewerten müssen, mit denen sie einen einheitlichen Lebensvorgang bilden. Nur so könne bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit zutreffend eingeschätzt werden, ob nicht die Unfähigkeit zur Ausführung einzelner Arbeitsschritte dergestalt Auswirkungen auf die gesamte Arbeitsleistung hat, dass ein sinnvolles Arbeitsergebnis nicht mehr zu erzielen ist, abschließend der Bundesgerichtshof.
Die Entscheidung des BGH zur Aufklärung des außermedizinischen Sachverhalts zeigt, dass jede Leistungseinstellung einer Berufsunfähigkeitsversicherung zwingend juristisch überprüft werden sollte. Bereits zu Beginn des Verfahrens, nämlich beim Leistungsantrag, müssen die Voraussetzungen einer Berufsunfähigkeit herausgearbeitet werden. Ein Augenmerk ist dabei auf die Pflicht des Versicherungsnehmers zur konkreten Arbeitsbeschreibung zu richten. Im Streitfall hat der BGH ferner zutreffend herausgearbeitet, dass das Berufungsgericht den Antrag des Klägers auf Sachverständigenbeweis übergangen und damit zugleich dessen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise verletzt habe.
Daher ist es für Vermittler und Versicherte von Vorteil, sich mit dem Ablauf eines typischen BU-Verfahrens mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung vertraut zu machen, bevor Leistungsansprüche geltend gemacht werden. Es ist daher sinnvoll frühzeitig anwaltliche Expertise in Anspruch zu nehmen, um etwaige Anspruchsvereitelungen zu vermeiden. Weitere Informationen und Rechtsprechungen haben wir für Sie unter „Versicherungsrecht“ und themenspezifisch unter „Berufsunfähigkeitsversicherung“ zusammengefasst. Einen Überblick finden Sie auch unter Berufsunfähigkeitsversicherung zahlt nicht.
Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.
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