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Berufsunfähigkeitsrente bei mitgenommener Berufsunfähigkeit? (OLG Karlsruhe)

Das Oberlandesgericht Karlsruhe hatte sich mit der Frage zu befassen gehabt, ob der Versicherungsnehmer bei mitgenommener Berufsunfähigkeit einen Anspruch gegen den Versicherer auf Berufsunfähigkeitsrenten hat. Insbesondere hatte es dabei zu klären, ob bei dem Versicherten bereits vor Beginn des Vertragsverhältnisses eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit vorlag (OLG Karlsruhe v. 15.06.2021 – 12 U 36/21).

Der Fall vor dem OLG Karlsruhe

Die Parteien streiten um Ansprüche aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung. Der klagende Versicherungsnehmer unterhält bei der beklagten Versicherung u. a. eine Rentenversicherung für den Fall der Berufsunfähigkeit. Dem Versicherungsvertrag liegen u. a. die Bedingungen 2000 für die “Rentenversicherung für den Fall der Berufsunfähigkeit” zugrunde. Dort heißt es auszugsweise:

§ 2 Wann liegt Berufsunfähigkeit vor?

  1. Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person sechs Monate lang unterbrochen
  2. a) mindestens zu dem im Versicherungsschein genannten Prozentsatz (Grad der Berufsunfähigkeit) infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, auch nach einer für sie möglichen und zumutbaren Umorganisation ihres Arbeitsplatzes und trotz möglicher und zumutbarer Verwendung

– medizinischer Hilfsmittel (Sehhilfen, Bandagen, orthopädische Schuhe und Einlagen, Hörhilfen und Stützapparate) oder

– allgemein verfügbarer technischer Hilfsmittel

außerstande ist, ihren Beruf auszuüben, und

  1. b) auch tatsächlich aus Erwerbstätigkeit kein Einkommen bezog, dass in etwa ihrem bisher verfügbaren beruflichen Einkommen entspricht.
  2. Berufsunfähigkeit liegt auch vor, wenn die sechs Monate im Sinne der Nr. 1 noch nicht erreicht sind, aber voraussichtlich erreicht werden.
  3. Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit ist der Tag, an dem die maßgeblichen 6 Monate begonnen haben.”

Der Versicherungsnehmer ist gelernter Kaufmann im Einzelhandel. Seit Anfang Januar 2015 besteht bei diesem ein Grad der Behinderung von 90 % wegen Sehminderung/Gesichtsfeldeinengung und Depression. Seit Anfang Januar 2019 erhält der Versicherte eine Rente der Deutschen Rentenversicherung wegen voller Erwerbsminderung. Im September 2015 beantragte er Leistungen aus dem Versicherungsvertrag (siehe hierzu Berufsunfähigkeit beantragen). Diesen Leistungsantrag lehnte der Versicherer jedoch ab. Eine leistungspflichtige Berufsunfähigkeit des Klägers läge nicht vor, sei aber jedenfalls nicht in der Versicherungszeit eingetreten. Die Ausübung der Tätigkeit sei dem Kläger demnach schon vor Versicherungsbeginn dauerhaft und objektiv nicht mehr möglich gewesen. Der Kläger hingegen behauptet, dass er zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses im Jahr 2002 nicht berufsunfähig gewesen sei.

Die Klage des Versicherungsnehmers wies das Landgericht ab. Dem Kläger stünden gegen den Versicherer keine Ansprüche auf Zahlung der vereinbarten Berufsunfähigkeitsrente zu. Gegen diese Entscheidung legte der Versicherungsnehmer Berufung ein.

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Die Entscheidung des OLG Karlsruhe

Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass die Berufung des Klägers (teilweise) begründet ist. Dem Kläger stehe aufgrund des zwischen den Parteien bestehenden Vertrags über eine Berufsunfähigkeitsversicherung ein Anspruch auf Zahlung der vereinbarten Berufsunfähigkeitsrente aus der “Rentenversicherung für den Fall der Berufsunfähigkeit“ ab dem 1. März 2015 zu. Die weiteren geltend gemachten Ansprüche des Klägers seien nur zum Teil berechtigt.

Der Versicherungsnehmer sei jedenfalls seit März 2015 berufsunfähig. Nach den zugrunde liegenden Bedingungen liege Berufsunfähigkeit vor, wenn der Versicherungsnehmer sechs Monate ununterbrochen zu mindestens 50 % infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, auch nach einer für ihn möglichen und zumutbaren Umorganisation seines Arbeitsplatzes und trotz möglicher und zumutbarer Verwendung medizinischer Hilfsmittel oder allgemein verfügbarer technischer Hilfsmittel außerstande ist, seinen Beruf auszuüben und auch tatsächlich aus Erwerbstätigkeit kein Einkommen bezieht, das in etwa seinem bisher verfügbaren beruflichen Einkommen entspricht. Wenn die Zeitdauer von sechs Monaten in diesem Sinne noch nicht erreicht ist, genüge es für die Annahme der Berufsunfähigkeit auch, wenn die sechs Monate voraussichtlich erreicht werden, so das Oberlandesgericht.

So habe der Versicherte, entgegen der Auffassung des Landgerichts, den Nachweis geführt, dass zum Zeitpunkt des Vertragsbeginns der Berufsunfähigkeitsversicherung im Jahr 2002 noch keine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit vorlag und die Berufsunfähigkeit damit während der Vertragslaufzeit eingetreten ist. Den Kläger treffe dabei als Versicherungsnehmer die Darlegungs- und Beweislast, dass die behauptete Berufsunfähigkeit erst nach Beginn des Versicherungsverhältnisses eingetreten ist. Unklarheiten darüber, ob schon in vorvertraglicher Zeit ein dauerhafter gesundheitsbedingter Ausschluss der Fähigkeit zur Berufsausübung vorgelegen hat, gehen damit zu Lasten des Versicherten, so das Gericht.

Keine Berufsunfähigkeit bei Vertragsbeginn!

Das OLG führt weiter aus, dass sich die fehlende bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit bei Vertragsbeginn bereits aus dem Umstand ergebe, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt tatsächlich aus seiner beruflichen Tätigkeit ein Einkommen bezogen habe und damit die nach § 2 Nr. 1 b) MB 2000 zu erfüllende Voraussetzung für die Annahme bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit nicht vorlag. Nach § 2 Nr. 1 b) MB 2000 sei für die Annahme von Berufsunfähigkeit kumulativ erforderlich, dass der Versicherungsnehmer „auch tatsächlich aus Erwerbstätigkeit kein Einkommen bezog“, welches in etwa seinem bisher verfügbaren beruflichen Einkommen entspreche.

Die Argumentation des Versicherers in der Berufungserwiderung, mit dieser Klausel werde nur das versicherte Risiko eingeschränkt, schließe es nicht aus, dass damit auch eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit bei Vertragsbeginn bereits deshalb verneint werden könne, weil der Versicherungsnehmer zu diesem Zeitpunkt tatsächlich erwerbstätig gewesen sei und ein hinreichendes Einkommen erzielt habe. Die Klausel stelle ausdrücklich nur auf die „tatsächlichen“ Gegebenheiten ab und nicht darauf, ob im Sinne einer konkreten oder abstrakten Verweisung der Versicherungsnehmer durch eine anderweitige Tätigkeit ein Einkommen erzielen konnte.

Wenn die Beklagte ihr Risiko für eine Leistungsverpflichtung reduziere, indem der Annahme einer Berufsunfähigkeit eine tatsächlich ausgeübte Tätigkeit entgegenstehen soll, müsse sie es im Gegenzug auch hinnehmen, dass damit ihr Risiko für eine „mitgenommene“ Berufsunfähigkeit bei Vertragsschluss erhöht wird, so das OLG Saarbrücken. Die fortdauernde tatsächliche Ausübung der beruflichen Tätigkeit über mehrere Jahre lassen demnach einen hinreichend sicheren Schluss dahingehend zu, dass im Jahr 2002 noch keine Berufsunfähigkeit des Versicherungsnehmers vorlag. Nach Auffassung des Gerichts genügen allein Zweifel an der „rechtlichen Unmöglichkeit“, den bisherigen Beruf weiterhin auszuüben, für die Annahme einer Berufsunfähigkeit nicht.

Unveränderte Berufsausübung als Indiz für das Nichtvorliegen einer Berufsunfähigkeit

Weiter führt das Gericht aus, dass eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit nicht nur dann vorliege, wenn der Versicherungsnehmer infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls nicht mehr zur Fortsetzung seiner zuletzt ausgeübten Berufstätigkeit imstande ist, sondern sei auch dann anzunehmen, wenn Gesundheitsbeeinträchtigungen eine Fortsetzung der Berufstätigkeit unzumutbar erscheinen lassen. Letzteres könne der Fall sein, wenn sich die fortgesetzte Berufstätigkeit des Versicherungsnehmers angesichts einer drohenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes als Raubbau an der Gesundheit und deshalb überobligationsmäßig erweist oder wenn andere mit der Gesundheitsbeeinträchtigung in Zusammenhang stehende oder zusammenwirkende Umstände in der Gesamtschau ergeben, dass dem Versicherungsnehmer die Fortsetzung seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit nicht mehr zugemutet werden kann. Unter welchen Voraussetzungen ein überobligationsmäßiges Verhalten des Versicherten vorliege, lasse sich nicht allgemein sagen.

Letztlich stelle die unveränderte Ausübung des Berufs dabei regelmäßig ein Indiz dafür dar, dass beim Versicherten keine Berufsunfähigkeit vorliegt, abschließend das Oberlandesgericht. Es bedürfe insoweit zumindest hinreichend konkreter Umstände, um das in der faktischen Ausübung liegende und gegen eine Berufsunfähigkeit sprechende Indiz zu entkräften.

Praxishinweis

Die Entscheidung des OLG Saarbrücken kann im Ergebnis überzeugen. Ein Augenmerk ist hierbei darauf zu richten, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit sauber und rechtlich zutreffend herausgearbeitet werden müssen. Die Entscheidung zeigt, dass jede Leistungsablehnung einer Berufsunfähigkeitsversicherung zwingend juristisch überprüft werden sollte. Bereits zu Beginn des Verfahrens, nämlich beim Leistungsantrag, müssen die Voraussetzungen einer Berufsunfähigkeit herausgearbeitet werden. Insbesondere sollten dabei die Voraussetzungen einer Tätigkeitsverweisung genaustens geprüft werden.

Daher ist es für Vermittler und Versicherte von Vorteil, sich mit dem Ablauf eines typischen BU-Verfahrens mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung vertraut zu machen, bevor Leistungsansprüche geltend gemacht werden. Es ist daher sinnvoll frühzeitig anwaltliche Expertise in Anspruch zu nehmen, um etwaige Anspruchsvereitelungen zu vermeiden. Weitere Informationen und Rechtsprechungen haben wir für Sie unter „Versicherungsrecht“ und themenspezifisch unter „Berufsunfähigkeitsversicherung“ zusammengefasst. Einen Überblick finden Sie auch unter Berufsunfähigkeitsversicherung zahlt nicht.

Zum Autor: Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke

Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.

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