Spontane Anzeigepflicht in der Pflegetagegeldversicherung bei Down-Syndrom (LG Münster)

Das Landgericht Münster  hatte sich mit der Frage zu befassen gehabt, ob den Versicherungsnehmer eine spontane Anzeigepflicht in der Pflegetagegeldversicherung bei einer Erkrankung an Trisomie 21 / Down-Syndrom treffen kann. Dies war gerade streitig, wenn es sich um die Mitteilung außergewöhnlicher und besonders grundlegender Informationen handelt, die das Aufklärungsinteresse des Versicherers so grundlegend berühren, dass sich dem Versicherungsnehmer ihre Mitteilungsbedürftigkeit aufdrängen musste (LG Münster, Urt. v. 21.06.2019 – 115 O 146/18).

Anzeigepflicht bzgl. Trisomie 21 / Down-Syndrom?

Die Versicherungsnehmerin unterhält bei der beklagten Versicherung eine Pflegetagegeldversicherung. Beim Sohn der Versicherungsnehmerin war in der vierten Schwangerschaftswoche die Krankheit Trisomie 21 (Down-Syndrom) diagnostiziert worden. Die Ärzte klärten die Versicherungsnehmerin nach der Geburt über die Erkrankung des Kindes auf. Die Klägerin beantragte am folgenden Tag bei dem Versicherer den Abschluss einer Pflegetagegeldversicherung, und zwar für ihren Sohn als versicherte Person. Sie hat in dem von ihr unterschriebenen Antragsformular die Frage nach einzelnen Erkrankungen innerhalb der letzten fünf Jahre mit “nein” beantwortet.

Mit dem Leistungsantrag der Versicherungsnehmerin auf Zahlung von Pflegetagegeld erhielt der Versicherer erstmals von der diagnostizierten Erkrankung Kenntnis und erklärte daraufhin die Anfechtung des Versicherungsvertrages. Nunmehr wird um die Wirksamkeit des Pflegetagegeldversicherungsvertrags sowie über Ansprüche auf Zahlung von Pflegetagegeld gestritten.

Die Entscheidung des LG Münster

Das Landgericht hat die Klage der Versicherungsnehmerin auf Zahlung von Pflegetagegeld abgewiesen. Die Versicherungsnehmerin habe keinen Anspruch auf Leistungen aus dem Versicherungsvertrag oder auf die beantragte Feststellung, dass der zwischen den Parteien geschlossene Pflegetagegeldversicherungsvertrag unverändert fortbestehe. Dieser sei nämlich durch wirksame Anfechtung der Annahmeerklärung durch den beklagten Versicherer rückwirkend beseitigt worden, so das LG Münster.

Das Gericht führt aus, dass die Klägerin bei Antragstellung den Versicherer arglistig getäuscht habe, indem sie die unstreitig vorhandene Trisomie-21-Erkrankung ihres Sohnes und die damit verbundene erhöhte Gefahr des Eintritts eines Versicherungsfalls verschwiegen habe.

Bestand eine spontane Anzeigeobliegenheit?

Das Gericht hatte in diesem Streitfall zu klären, ob eine spontane Anzeigepflicht der Klägerin überhaupt in Betracht kam. Dazu führte das Gericht aus, dass es in Rechtsprechung und Literatur umstritten sei, ob für einen Versicherungsnehmer noch nach der Reform des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) die Pflicht besteht, auch ohne entsprechende Frage des Versicherers auf gefahrerhebliche Umstände hinzuweisen. Das LG Münster folge in diesem Zusammenhang der vom OLG Hamm im Beschluss vom 27.02.2015 (20 U 26/15) vertretenen Auffassung, nach der eine spontane Anzeigeobliegenheit dann in Betracht kommen kann, wenn es sich um die Mitteilung außergewöhnlicher und besonders grundlegender Informationen handelt, die das Aufklärungsinteresse des Versicherers so grundlegend berühren, dass sich dem Versicherungsnehmer ihre Mitteilungsbedürftigkeit aufdrängen musste.

Das LG Münster ist ferner der Ansicht, dass in einem solchen Fall außergewöhnlicher und besonders grundlegender Gefahrumstände auch keine Schutzbedürftigkeit des Versicherungsnehmers bestehe. Die Beschränkung der Anzeigepflicht auf eine Antwortpflicht solle den Versicherungsnehmer nämlich von dem Risiko entlasten, die Anzeigepflicht infolge einer Fehleinschätzung der Gefahrerheblichkeit eines Umstandes zu verletzen. Diesem Risiko sei ein Versicherungsnehmer jedoch dann nicht ausgesetzt, wenn er selbst davon ausgehe, dass die Kenntnis des Versicherers von bestimmten Umständen trotz Fehlens entsprechender Fragen dessen Entscheidung beeinflusst, weil das Unterbleiben ordnungsgemäßer Fragen keine Rolle für das Verhalten des Versicherungsnehmers gegenüber dem Versicherer spiele.

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Trisomie-21-Erkrankung: ein außergewöhnlicher Umstand?

So liege nach Ansicht des Landgerichts der Fall hier. Denn bei der Erkrankung des versicherten Sohnes „Trisomie 21“ handele es sich demnach um einen solchen seltenen und außergewöhnlichen Umstand, der angesichts der mit der Erkrankung regelmäßig einhergehenden Folgen das Aufklärungsinteresse des Versicherers so grundlegend berühre, dass sich der Klägerin die Mitteilungsbedürftigkeit habe aufdrängen müssen. Die Versicherungsnehmerin sei unstreitig am Tag vor der Antragstellung in einem Gespräch mit dem Arzt über die Art und die möglichen Folgen der bei ihrem Sohn vorliegenden Erkrankung aufgeklärt worden. Damit sei ihr bekannt gewesen, dass es sich bei der Trisomie 21 um eine „chromosomale Erkrankung” handelt, die bestehen bleiben werde. Letztlich habe sie den Versicherer arglistig getäuscht, indem sie den gefahrerheblichen und damit mitteilungspflichtigen Umstand nicht „spontan“ offenbart habe, so das LG Münster.

Wie hatte das OLG Celle entschieden?

In einem ähnlichen Streitfall hat das OLG Celle (Pflegetagegeldversicherung: Spontane Anzeigeobliegenheit bei Abschluss einer Pflegetagegeldversicherung), anders als das LG Münster, zugunsten des Versicherungsnehmers entschieden. Auch in diesem Fall vor dem OLG Celle unterhielt der Kläger für seinen Sohn als versicherte Person eine Pflegetagegeldversicherung. Die U6-Untersuchung des Kindes ergab u.a. eine “Entwicklungsverzögerung”. Ein von der gesetzlichen Krankenversicherung beauftragtes Gutachten zum Pflegebedarf des Kindes besagte, dass wegen einer „Entwicklungsstörung der Motorik und der Sprache bei bestätigtem Gendefekt“ die Kriterien der Pflegestufe I erfüllt seien. Daraufhin machte der Kläger bei der Beklagten Leistungen aus der Pflegetagegeldversicherung geltend. Der Versicherer lehnte diesen Antrag ab. Das OLG Celle entschied, dass dem Kläger der geltend gemachte Leistungsanspruch zustehe.

Es stellte sich auch hier die Frage, ob eine Entwicklungsverzögerung gefahrerheblich für eine Pflegeversicherung ist. Dem Gericht erschien bereits fraglich, ob die Entwicklungsverzögerung aus Sicht eines Versicherungsnehmers offensichtlich gefahrerheblich für eine Pflegeversicherung ist. Nach Ansicht des OLG Celle dürfte nämlich eine frühkindliche Entwicklungsverzögerung in den meisten Fällen „auswachsen“, ohne dass sich hieraus das Risiko einer Pflegebedürftigkeit ergebe. Es erscheine aber zweifelhaft, ob dies genüge, um in diesem Fall eine Gefahrerheblichkeit trotz des Unterbleibens der Frage im Fragenkatalog anzunehmen. Das OLG Celle betonte jedoch, dass dies im Ergebnis dahingestellt bleiben könne, da eine Entwicklungsverzögerung weder sehr selten noch ungewöhnlich ist, sodass es einer Frage des Versicherers hiernach bedürfte.

Das LG Münster kam jedoch zum Ergebnis, dass es sich bei der Trisomie-21-Erkrankung gerade um einen seltenen und außergewöhnlichen Umstand handele, nach dem der Versicherer habe nicht fragen müssen. Damit ist festzustellen, dass es im Einzelfall explizit auf die diagnostizierte Erkrankung ankommt.

Fazit und Hinweis für die Praxis

Das LG Münster nimmt, wie das OLG Hamm, eine spontane Anzeigeobliegenheit nur bei Umständen an, die zwar offensichtlich gefahrerheblich, aber so ungewöhnlich sind, dass eine darauf abzielende Frage nicht erwartet werden kann. Grundsätzlich müsse sich aber der Versicherungsnehmer darauf verlassen können, dass der Versicherer die aus seiner Sicht gefahrerheblichen Umstände erfragt. Damit weist auch die Entscheidung des LG Münster eine hohe Praxisrelevanz auf. Zum einen stärkt diese Entscheidung die Position des Versicherungsnehmers hinsichtlich einer etwaigen spontanen Anzeigepflicht. Zum anderen zeigt sie, dass auch das Aufklärungsinteresse des Versicherers von großer Bedeutung ist, dies aber eben nur in bestimmten Ausnahmefällen. Den Regelfall bildet demnach weiterhin der allgemein anerkannte Umstand, dass den Versicherungsnehmer keine spontane Anzeigeobliegenheit trifft. Es besteht mithin keine eindeutige und einheitliche, höchstrichterliche Regelung für den Fall der sogenannten „spontanen Anzeigeobliegenheit, bzw. Anzeigepflicht“ im Versicherungsfall.

Für die Praxis ist damit festzustellen, dass es sinnvoll ist, jede Antragstellung vor Abschluss eines Versicherungsvertrages juristisch überprüfen zu lassen und frühzeitig anwaltlichen Rat in Anspruch zu nehmen, um eine spätere Leistungsablehnung im Rahmen der vertraglich zugesicherten Ansprüche des Versicherten zu vermeiden.

Weitere Informationen finden Sie auch unter unter „Versicherungsrecht“  und „Pflegetagegeldversicherung“. Informationen zum Thema “spontane Anzeigeobliegenheit” finden Sie zudem hier: „Die spontane Anzeigeobliegenheit der Versicherten – ein Mythos oder gelebte Pflicht?“

Zum Autor: Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke

Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.

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