Der Bundesgerichtshof hatte sich mit der Frage zu befassen gehabt, wann die für den Anspruch auf Tagegeld in der Unfallversicherung maßgebliche ärztliche Behandlung endet (BGH, Urt. 04.11.2020 – IV ZR 19/19).
Der klagende Versicherungsnehmer (VN) unterhält bei dem beklagten Versicherer eine Unfallversicherung. Im Streitfall nimmt der Kläger den Versicherer auf Zahlung weiteren Tagegeldes in Anspruch. In den eingezogenen allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB 2008) heißt es unter anderem, dass Voraussetzung für den Erhalt des Tagegeldes ist, dass die versicherte Person unfallbedingt sowohl in der Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt als auch in ärztlicher Behandlung ist. Zu den Voraussetzungen gehört nach den Versicherungsbedingungen auch, dass die Anordnungen eines Arztes zu befolgen sind, da im Falle der Nichtbeachtung der Verlust des Versicherungsschutzes droht.
Der Versicherungsnehmer erlitt einen bedingungsgemäßen Unfall. Bei diesem Unfall verletzte er sich einen Finger. Sodann war er bei einem Facharzt in Behandlung. Dessen Praxis besuchte der Kläger zuletzt im Juni 2016. Dabei wurde ihm wegen eines andauernden Bewegungsdefizit „10-mal Krankengymnastik“ verschrieben. Der Facharzt untersuchte die versicherte Person im September 2016 erneut. Anschließend erfolgte eine Nachfrage des beklagten Versicherers im Hinblick auf die ärztliche Behandlung des Klägers, woraufhin der Arzt erklärte, dass die Behandlung im Juni 2016 abgeschlossen wurde. Im Februar 2017 war der Versicherungsnehmer nochmals in ärztlicher Behandlung. Hierbei verordnete der Facharzt wegen fortbestehender Bewegungseinschränkungen Physiotherapie.
Nunmehr leistete der Versicherer Tagegeld für die Zeit bis einschließlich Juni 2016. Die auf die Zahlung weiteren Tagegeldes gerichtete Klage des Klägers hatte das Landgericht Regensburg im Wesentlichen abgewiesen. Die hiergegen eingelegte Berufung wurde vom Oberlandesgericht Nürnberg zurückgewiesen. Der Versicherungsnehmer wendet sich gegen dieses Urteil mit der Revision zum BGH.
Die Revision des Klägers hatte Erfolg. Anders als das OLG Nürnberg geht der BGH davon aus, dass die nach Ziffer 2.5 AUB 2008 für den Anspruch auf Tagegeld maßgeblich ärztliche Behandlung nicht stets mit der letzten Vorstellung beim Arzt ende. Vielmehr umfasse die maßgebliche ärztliche Behandlung regelmäßig die Dauer der von dem Arzt angeordneten Behandlungsmaßnahmen.
Dieses Ergebnis beruhe auf der Auslegung der Klausel anhand des Maßstabs eines durchschnittlichen, um Verständnis bemühten Versicherungsnehmers. Demnach seien allgemeine Versicherungsbedingungen so auszulegen, wie dieser sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei komme es nach Auffassung des Senats auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. Im Rahmen dieser Auslegung sei in erster Linie vom Wortlaut der Bedingungen auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln seien zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind, so der Bundesgerichtshof.
Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs lasse der Wortlaut der Klausel erkennen, dass es nicht auf den letzten Arztbesuch ankomme. Vielmehr komme es auf die Dauer der ärztlichen Behandlung an. Selbst wenn zunächst auf das Handeln des Arztes abzustellen wäre, so seien regelmäßig auch etwaige vom Arzt angeordnet Behandlungsmaßnahmen, wie beispielsweise die Einnahme eines verschriebenen Medikaments oder die Durchführung einer verordneten Therapie, einzubeziehen. Aus der Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers werde die Dauer solcher von der ärztlichen Fürsorge und Verantwortung umfassten Behandlungsmaßnahmen regelmäßig als Teil der ärztlichen Behandlung angesehen. Dies geschehe unabhängig davon, ob diese erst nach dem letzten Arztbesuch erfolgten, ob Dritte bei ihrer Durchführung tätig wurden und inwieweit der Arzt Maßnahmen selbst spezifiziert oder ihre konkrete Ausgestaltung einem Dritten überlassen hat. Unerheblich sei aus Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers ferner, ob nach der Durchführung einer verordneten Therapie ein weiterer Arztbesuch zur Erfolgskontrolle stattfinde, bei dem der Arzt die versicherte Person ausdrücklich aus seiner Fürsorge entlässt, oder ob die verordnete Behandlung ohne einen solchen Kontrollbesuch ende, so der BGH.
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Der BGH führte weiter aus, dass bei diesem Verständnis den Versicherungsnehmer der für ihn erkennbare Zweck des Tagegeldes schütze. Nach Ziffer 2.5.1 AUB 2008 sei demnach Tagegeld zu zahlen, wenn die versicherte Person unfallbedingt in der Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt und in ärztlicher Behandlung ist. Dem werde der Versicherungsnehmer nehmen, dass das Tagegeld unfallbedingt erlittene Einkommensverluste ausgleichen soll. Sind nach dem ärztlichen Behandlungsplan Medikamente einzunehmen oder Therapien durchzuführen, werde der Versicherte diese Maßnahmen regelmäßig als der Wiederherstellung oder Besserung der Arbeitsfähigkeit dienlich und daher vom Weg des Tage Geldes umfasst sehen.
Der Kläger werde ein davon abweichendes Verständnis auch nicht nach dem Sinnzusammenhang der Klausel in Erwägung ziehen. Er werde erkennen, dass er nach den zugrundeliegenden Versicherungsbedingungen Anordnungen des behandelnden Arztes zu befolgen habe und dass anderenfalls der Versicherungsschutz entfallen oder die Versicherungsleistung gekürzt werden könne. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer werde zu solchen Anordnungen auch Verordnung des behandelnden Arztes zählen, die er nach dem letzten Arztbesuch befolgen sollen. Das werde nach Ansicht des Senats den Versicherten darin bestärken, diese Maßnahmen regelmäßig der ärztlichen Behandlung im Sinne der Versicherungsbedingungen zuzurechnen.
Letztendlich entspreche diese Auslegung der in der Rechtsprechung und im Schrifttum überwiegend vertretene Auffassung, die auf den Abschluss der ärztlichen Therapie abstellt und hierzu die Dauer einer vom Arzt verordneten Medikation oder therapeutischen Maßnahme zählt.
Im Ergebnis folge aus alledem, dass der in Ziffer 2. 5 AUB 2008 verwendete Begriff der Dauer der ärztlichen Behandlung danach gerade nicht unklar im Sinne von § 305c Abs. 2 BGB sei, so der Bundesgerichtshof.
Das Urteil des Bundesgerichtshof überzeugt. Das Argument der Gegenauffassung, der sich das Berufungsgericht (OLG Nürnberg) angeschlossen hat, dass eine ärztliche Behandlung stets mit dem letzten Arztbesuch ende, vermag indes nicht zu überzeugen. Entscheidend ist hier vielmehr die persönliche Begegnung zwischen dem Patient und dem Arzt. Daher ist es zutreffend, den Maßstab eines durchschnittlichen Versicherungsnehmer heranzuziehen. Folgerichtig ist daher die Ausführung des Senats, dass ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer den ärztlichen Behandlungsplan im Hinblick auf einzunehmende Medikamente oder durchzuführende Therapien regelmäßig als Teil der ärztlichen Behandlung ansehen kann.
Weitere Informationen und Rechtsprechungen haben wir für Sie unter „Versicherungsrecht“ und themenspezifisch unter „Unfallversicherung“ zusammengefasst.
Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.
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