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Zahlung einer erhöhten Rente aus der Nachversicherung der Berufsunfähigkeitsversicherung? (BGH)

Der BGH hatte sich mit der Frage zu befassen gehabt, ob dem Versicherungsnehmer ein Anspruch auf Zahlung der erhöhten Rente aus einer Nachversicherung zusteht, wenn der Versicherungsschutz aus der Nachversicherung bei Eintritt der Berufsunfähigkeit noch nicht begonnen hat (BGH Urt. v. 14.07.2021 – IV ZR 153/20).

Der Fall vor dem BGH

Der klagende Versicherungsnehmer unterhält bei dem beklagten Versicherer seit 2009 eine Berufsunfähigkeitsversicherung mit Nachversicherungsgarantie, nach welcher der Versicherungsumfang ohne erneute medizinische Risikoprüfung erhöht werden konnte. Ende Juli 2016 erlitt der Kläger einen Arbeitsunfall und ist seitdem arbeitsunfähig. Mitte Oktober 2016 beantragte der Versicherte die Erhöhung des Versicherungsschutzes um 100%. Diese erfolgte mit Wirkung zum 1. November 2016.

Dem Versicherungsvertrag lagen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) zugrunde:

„1 Versicherungsschutz

 …
 1.2 Wann liegt vollständige Berufsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen vor?

1.2.1 Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung, … 6 Monate ununterbrochen außerstande war oder voraussichtlich 6 Monate ununterbrochen außerstande ist, ihren zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, auszuüben.


 2 Leistungen

 …
 2.1.2 Wir zahlen die zum Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit vereinbarte Rente … …
 2.4 Ab wann werden Leistungen gewährt? Karenzzeit

2.4.1 Der Anspruch auf Leistungen entsteht mit Beginn des Kalendermonats nach Eintritt der Berufsunfähigkeit (= Beginn des sechsmonatigen Zeitraums gemäß Abschnitt 1.2.1) und Ablauf einer gegebenenfalls vorgesehenen und vereinbarten Karenzzeit.

…“

Im Dezember 2016 meldete der Versicherungsnehmer einen Leistungsanspruch an (siehe hierzu Berufsunfähigkeit beantragen). Der Versicherer teilte im September 2017 diesem mit, dass er als Beginn der Berufsunfähigkeit den 29. Juli 2016 angenommen habe und den Anspruch auf BU-Rente ab dem 1. August 2016 anerkenne. Der Versicherer zahlt dem Kläger seitdem eine Rente in der 2009 vereinbarten Höhe und nicht die erhöhte Rente aus der Nachversicherung vom 1. November 2016. Der Versicherungsnehmer nimmt nunmehr den beklagten Versicherer auf weitere Leistungen wegen Berufsunfähigkeit in Anspruch.

Das Landgericht hat die auf Zahlung der zum 1. November 2016 erhöhten Renten gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers blieb erfolglos. Mit der Revision verfolgt der Versicherte sein Klagebegehren weiter.

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Die Entscheidung des BGH

Die Revision führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückweisung der Sache an das Berufungsgericht. Nach Auffassung des Berufungsgerichts stehe dem Kläger kein Anspruch auf Zahlung der erhöhten Rente zu, weil der Versicherungsschutz aus der Nachversicherung bei Eintritt der Berufsunfähigkeit noch nicht begonnen gehabt habe. Der Kläger sei bereits vor der Nachversicherung berufsunfähig geworden, so zumindest das Berufungsgericht.

Dieses Ergebnis halte rechtlicher Prüfung nicht stand. Wie das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zutreffend annehme, schulde der Versicherer die zum Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit vereinbarte Rente. Der Versicherungsfall tritt jedoch nicht stets mit dem Beginn des Zeitraums von 6 Monaten gemäß Abschnitt 1.2.1 AVB ein. Vielmehr sei nach Ansicht des BGH entsprechend den beiden Alternativen dieser Klausel danach zu differenzieren, ob die versicherte Person 6 Monate ununterbrochen zur Berufsausübung außerstande war (Berufsunfähigkeit am Ende dieses Zeitraums) oder ob sie voraussichtlich 6 Monate ununterbrochen hierzu außerstande ist (Berufsunfähigkeit zu Beginn des Zeitraums). Das ergebe die Auslegung der Klausel, so der BGH.

Auslegung der AVB

Allgemeine Versicherungsbedingungen seien so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Hierbei komme es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an, führt der BGH aus. Zunächst sei vom Wortlaut der Bedingung auszugehen. Zusätzlich sei der mit den Bedingungen verfolgte Sinn und Zweck zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind.

Der BGH führt weiter aus, dass bei der Beurteilung der Frage, wann der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit vorliegt, der Versicherungsnehmer die Überschrift von Abschnitt 1.2 AVB finden (Wann liegt vollständige Berufsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen vor?“) und Abschnitt 1.2.1 AVB sich anschauen werde. Zunächst werde er sich am Wortlaut der Klausel orientieren und erkennen, dass diese zwei durch das Wort „oder“ getrennte Alternativen aufführe, wobei die erste Alternative im Imperfekt formuliert sei („6 Monate ununterbrochen außerstande war“). Hieraus werde der Versicherungsnehmer folgern, dass es insoweit auf eine rückblickende Beurteilung ankomme, die erst nach Ablauf des Zeitraums von 6 Monaten möglich sei. Weiter werde der Versicherte unter Einbeziehung der Formulierung zu Anfang der Klausel („Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person …) annehmen, dass der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit nach dieser Alternative erst nach Ablauf des Zeitraums von 6 Monaten vorliegen kann.

Der Versicherungsnehmer werde ferner nach dem Wort „oder“ die zweite Alternative für das Vorliegen vollständiger Berufsunfähigkeit erkennen („voraussichtlich 6 Monate ununterbrochen außerstande ist). Er werde dabei bemerken, dass diese Alternative im Präsens formuliert sei und keine rückschauende Betrachtung zum Gegenstand habe, sondern die Prognose, ob die versicherte Person „voraussichtlich“ während eines Sechsmonatszeitraums außerstande sein wird, ihren Beruf auszuüben. Aus dem Umstand, dass die Klausel insoweit auf eine Prognose zu Beginn eines Zeitraums von 6 Monaten abstelle, werde der Versicherungsnehmer folgern, dass die hieran geknüpfte Berufsunfähigkeit schon zu Beginn dieses Zeitraums vorliegt, so der Bundesgerichtshof.

Nach Auffassung des BGH werde der Kläger den Sinnzusammenhang der beiden Alternativen dahingehend verstehen, dass eine erheblich beeinträchtigte Person, deren Außerstandesein zur Berufsausübung während der nächsten 6 Monate abzusehen ist, bereits berufsunfähig im Sinne der zweiten Alternative von Abschnitt 1.2.1 AVB sei. Doch bei einer Person, bei welcher eine solche Prognose (noch) nicht möglich sei, werde er es so verstehen, dass der Sechsmonatszeitraum abgewartet werden müsse und erst dann feststehe, dass für die Folgezeit Berufsunfähigkeit im Sinne der ersten Alternative der Klausel vorliege.

Der Bundesgerichtshof stellt ferner fest, dass es Anhaltspunkte dafür, dass der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit auch nach der ersten Alternative von Abschnitt 1.2.1 AVB zu Beginn des Zeitraums von 6 Monaten vorliegen könnte, in der Klausel nicht gebe. Die Klausel unterscheide sich insoweit von Bedingungen, welche durch den Zusatz „von Beginn an“ bestimmen, dass auch bei einer rückschauenden Betrachtung der Versicherungsfall ab dem ersten Tag des jeweiligen Zeitraums vorliege. Fehle wie im vorliegenden Fall ein solcher Zusatz, so tritt der Versicherungsfall erst 6 Monate nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit ein, so der BGH.

Des Weiteren werde ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer Abschnitt 2.4.1 AVB nichts Anderes entnehmen, meint der BGH. Er werde die Klausel, die unter der Überschrift „Ab wann werden Leistungen gewährt?“ und der weiteren Überschrift „Karenzzeit“ steht, für die Beurteilung der Frage, wann der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit eintritt, nicht beachten. Unabhängig davon werde dem Versicherten deutlich, dass die Klausel nicht den Versicherungsfall, sondern den Beginn der Leistung regele. Ferner werde der Versicherungsnehmer dem Klammerzusatz („= Beginn des sechsmonatigen Zeitraums gemäß Abschnitt 1.2.1“) nicht entnehmen, dass Berufsunfähigkeit entgegen seinem Verständnis von Abschnitt 1.2.1 AVB in beiden Alternativen bereits zu Beginn des Sechsmonatszeitraums vorliege.

Der BGH vertritt hier die Auffassung, dass der Regelungsort in den Bedingungen, die Überschriften, der Wortlaut und das Fehlen einer Verweisung in Abschnitt 1.2.1 AVB den Versicherungsnehmer vielmehr darauf hinweisen, dass Abschnitt 2.4.1 AVB allein den Leistungszeitpunkt betreffe. Deshalb liege es fern, dass ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer annehmen könnte, der Versicherungsfall müsse früher eintreten, weil der Versicherer nicht für die Zeit vor dessen Eintritt leisten wolle. Auch gelte nichts Anderes in Anbetracht einer möglichen Manipulationsmöglichkeit bei einer Nachversicherungsoption. Dieser könne der Versicherer durch entsprechende Klausel entgegenwirken, abschließend der BGH.

Die Sache sei noch nicht zur Endentscheidung reif, weil das Berufungsgericht bislang keine Feststellungen dazu getroffen habe, nach welcher der beiden Alternativen von Abschnitt 1.2.1 AVB der Versicherungsnehmer berufsunfähig sei. Diese Feststellungen werde es nachzuholen haben.

Praxishinweis für Versicherte und Versicherungsvermittler

Die Entscheidung BGH des ist absolut überzeugend. Sie orientiert sich an den gängigen Auslegungsprinzipien von Versicherungsbedingungen und kommt zu dem Ergebnis, wie vorliegend der Eintritt der Versicherungsfall nach den zugrundeliegenden Versicherungsbedingungen zu verstehen ist.

Die Entscheidung zeigt ebenfalls, dass jeder Versicherungsfall im Rahmen einer Berufsunfähigkeitsversicherung zwingend juristisch überprüft werden sollte. Bereits zu Beginn des Verfahrens, nämlich beim Leistungsantrag, müssen die Voraussetzungen einer Berufsunfähigkeit vollständig herausgearbeitet werden. Dabei stehen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen und deren Auslegung im Mittelpunkt, so wie auch in diesem vorliegend Rechtsstreit. Stets ist hierbei auf den durchschnittlichen Versicherungsnehmer und seine Verständnismöglichkeiten ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse abzustellen. Dies hat der BGH im vorliegenden Fall ebenso ausführlich und zutreffend herausgearbeitet.

Es ist für Vermittler und Versicherte stets von Vorteil, sich mit dem Ablauf eines typischen BU-Verfahrens mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung vertraut zu machen, bevor Leistungsansprüche geltend gemacht werden. Es ist daher sinnvoll frühzeitig anwaltliche Expertise in Anspruch zu nehmen, um etwaige Anspruchsvereitelungen bestenfalls zu vermeiden. Weitere Informationen und Rechtsprechungen haben wir für Sie unter „Versicherungsrecht“ und themenspezifisch unter „Berufsunfähigkeitsversicherung“ zusammengefasst. Einen Überblick finden Sie auch unter Berufsunfähigkeitsversicherung zahlt nicht.

Zum Autor: Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke

Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.

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Anwalt erklärt Urteil des BGH zum Anspruch auf Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente aus der Nachversicherung.

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