Der Zeitpunkt des Rechtschutzfalles beim Aktivprozess (BGH)

Mit Urteil vom 03.07.2019 (Az. IV ZR 195/18) entschied der Bundesgerichtshof (BGH) abermals, dass der Tatsachenvortrag des Versicherungsnehmers einer Rechtsschutzversicherung, mit welchem dieser den Verstoß des Anspruchsgegners begründet, bei der Bestimmung des Rechtsschutzfalls als maßgebend anzusehen ist. Am selben Tage entschied der BGH auch zum Passivprozess (BGH v. 03.07.2019 – IV ZR 111/18).

Der Fall vor dem BGH

Der Kläger begehrt von der beklagten Rechtsschutzversicherung aus einem seit dem 01.01.2015 bestehenden Versicherungsvertrag die vertragsgemäße Kostendeckung für die Abwehr von Gewährleistungsansprüchen aus dem Verkauf eines gebrauchten Pkw. Der Kaufvertrag datiert auf den 18.06.2014. Die Geltendmachung der Gewährleistungsansprüche erfolgte am 09.10.2015.

Die beklagte Rechtsschutzversicherung wendet gegen das Begehren des Klägers ein, dass der Rechtsschutzfall mit der Übergabe des Fahrzeugs und damit vor Beginn des Rechtsschutzversicherungsvertrages eingetreten sei.

Das Amtsgericht hatte die Klage abgewiesen (AG Schleiden, Entscheidung vom 24.10.2017 – 9 C 74/17). Das Landgericht hatte die Berufung des Klägers zurückgewiesen (LG Aachen, Entscheidung vom 17.07.2018 – 3 S 137/17). Mit der Revision verfolgte der Kläger sein Freistellungsbegehren weiter.

Die rechtliche Wertung des BGH

Der BGH sprach dem Kläger einen Anspruch auf Rechtsschutzdeckung zu, denn der Versicherungsfall sei erst mit der Geltendmachung der nach Auffassung des Klägers unbegründeten Gewährleistungsansprüche durch die Käuferin und damit erst nach Beginn der Rechtsschutzversicherung und nicht schon mit dem Verkauf bzw. der Übergabe des angeblich mängelbehafteten Fahrzeugs eingetreten.

Die Festlegung des Versicherungsfalles richte sich nach § 4 (1) Satz 1 Buchst. d ARB 2012, wonach der Versicherungsfall zu dem Zeitpunkt als eingetreten gilt, in dem der Versicherungsnehmer oder ein anderer einen Verstoß gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften begangen hat oder begonnen haben soll. Genau heißt es in den Versicherungsbedingungen unter anderem:

„§ 4 Voraussetzungen für den Anspruch auf Rechtsschutz

(1) Anspruch auf Rechtsschutz besteht nach Eintritt des Rechtsschutzfalles

  1. a) im Schadenersatz-Rechtsschutz …
  2. b) im Rechtsschutz für Familien-, Lebenspartnerschafts- und Erbrecht …
  3. c) in Betreuungsverfahren …
  4. d) in allen anderen Fällen von dem Zeitpunkt an, in dem der Versicherungsnehmer oder ein anderer einen Verstoß gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften begangen hat oder begangen haben soll.

Die Voraussetzungen nach a) bis d) müssen nach Beginn des Versicherungsschutzes … und vor dessen Beendigung eingetreten sein.

(2) … Sind für die Wahrnehmung rechtlicher Interessen mehrere Rechtsschutzfälle ursächlich, ist der erste entscheidend. …

(3) Es besteht kein Rechtsschutz, wenn

  1. a) eine Willenserklärung oder Rechtshandlung, die vor Beginn des Versicherungsschutzes vorgenommen wurde, den Verstoß nach Abs. 1 d) ausgelöst hat. ….“

Dabei komme es allerdings trotz des abweichenden Wortlauts der Klausel allein auf die Tatsachen an, mit denen der Versicherungsnehmer sein Rechtsschutzbegehren begründet. Denn ansonsten könnte dieses die Gefahr einer uferlosen Rückverlagerung des Versicherungsfalls in sich bergen.

Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit – auch – auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Wortlaut der jeweiligen Klausel auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (vgl. BGH v. 06.07.2016 – IV ZR 44/15).

Unter Zugrundelegung dieses Auslegungsmaßstabes hat der BGH in jüngerer Zeit an seiner früheren Rechtsprechung zur Auslegung des § 14 (3) ARB 75, der insoweit eine dem § 4 (1) Satz 1 Buchst. d ARB 2012 im Wesentlichen gleichlautende Regelung enthält, in Fällen, in denen der Versicherungsnehmer Ansprüche gegen einen anderen erhob (sog. „Aktivprozess-Fälle“), aber auch in einem Fall, in dem sich der Versicherungsnehmer im Streit um Krankenversicherungsleistungen unter anderem gegen eine Aufrechnung seiner Anspruchsgegnerin mit Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung wehrte, nicht mehr festgehalten (vgl. dazu BGH v. 25.05.2015 – IV ZR 214/14).

Der BGH hat in mehreren jüngeren Entscheidungen geklärt, wie der Rechtsschutzfall zu bestimmen ist und darauf gestützt die zeitliche Einordnung und Begrenzung des versprochenen Versicherungsschutzes erfolgt (vgl. u. a. BGH v. 25.05.2015 – IV ZR 214/14; BGH v. 30.04.2014 – IV ZR 47/13; BGH v. 24.04.2013 – IV ZR 23/12)

Danach entnimmt der durchschnittliche Versicherungsnehmer zum einen dem Leistungsversprechen des Rechtsschutzversicherers, dass dieser es übernimmt, die Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen zu unterstützen. Zum anderen erkennt der durchschnittliche Versicherungsnehmer, dass mit der Anknüpfung des § 14 (3) ARB 75 (hier des § 4 (1) Satz 1 Buchst. d ARB 2012) an die erste adäquate Ursache des Ausgangsstreits der Bedingungswortlaut die Gefahr einer uferlosen Rückverlagerung des für die zeitliche Bestimmung des Versicherungsfalles maßgeblichen Geschehens in sich birgt, welche in der Mehrzahl der Fälle seinen berechtigten Interessen widerspricht (vgl. BGH v. 05.11.2014 – IV ZR 22/13). Deshalb kommt es für die Festlegung des Versicherungsfalles allein auf die Tatsachen an, mit denen der Versicherungsnehmer sein Rechtsschutzbegehren begründet (vgl. BGH v. 19.11.2008 – IV ZR 305/07; BGH v. 17.10.2007 – IV ZR 37/07; BGH v. 28.09.2005 – IV ZR 106/04; BGH v. 19.03.2003 – IV ZR 139/01).

Der BGH hat es in Fällen des Rechtsschutzes für Aktivprozesse des Versicherungsnehmers als für die Bestimmung des Versicherungsfalles unerheblich angesehen, was der Anspruchsgegner des Versicherungsnehmers gegen dessen Begehren einwendet (Senat aaO). Stattdessen richte sich die Festlegung des „verstoßabhängigen“ Rechtsschutzfalles im Sinne von § 14 (3) Satz 1 ARB 75 (hier § 4 (1) Satz 1 Buchst. d ARB 2012) allein nach den vom Versicherungsnehmer behaupteten Pflichtverletzungen.

Nicht maßgeblich sei damit das Interesse des Versicherers, sogenannten Zweckabschlüssen vorzubeugen. Je nach den zeitlichen Umständen des Einzelfalls könne die Klausel zu einem für den Versicherungsnehmer günstigen oder ungünstigen Ergebnis führen. Von Zweckabschlüssen könne nur dort die Rede sein, wo der Abschluss der Versicherung vom Versicherungsnehmer gezielt darauf gerichtet sei, Versicherungsschutz für Auseinandersetzungen zu erlangen, deren Ursache bereits in vorvertraglicher Zeit gesetzt wurde. Dies setze jedoch eine Kenntnis des Versicherungsnehmers von der Streitursache voraus, auf die die Klausel ihrem Wortlaut nach gerade nicht abstelle.

Fazit und Praxishinweis

Mit dieser Entscheidung führt der BGH seine bisherige Rechtsprechung zur Bestimmung des Versicherungsfalls in der Rechtsschutzversicherung fort (vgl. auch BGH, Urt. v. 30.4.2014 – IV ZR 47/13; BGH, Urt. v. 24.04.2013 – IV ZR 23/12). Auch in diesem Urteil entschied der BGH zu Lasten der Rechtsschutzversicherung, weil es allein auf die Fallschilderung des Versicherungsnehmers ankommt.

Der Tatsache, dass von Rechtsschutzversicherern häufig der Einwand der Vorvertraglichkeit erhoben wird, wird mit dieser Entscheidung wieder einmal Grenzen gesetzt. Wie auch im Urteil des BGH vom 24.04.2013 – IV ZR 23/12 stellt der BGH vorliegend auf die Rolle des Versicherungsnehmers im Verfahren ab: Es kommt nur auf den vom Versicherungsnehmer behaupteten Verstoß des Gegners an.

Die Entscheidung ist im Ergebnis absolut nachvollziehbar. Maßgeblich für den Eintritt des Rechtsschutzfalls muss der Tatsachenvortrag des Versicherten sein. Denn ansonsten würde die Deckung durch die Rechtsschutzversicherung von Tatsachen abhängig sein, die sich möglicherweise erst in einem laufenden Versicherungsprozess ergeben.

Begehrt der Versicherungsnehmer einer Rechtsschutzversicherung Deckungsschutz für die Verfolgung eigener Ansprüche (Aktivprozess), so richtet sich nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs die Auslösung des Rechtsschutzfalles allein nach der von ihm behaupteten Pflichtverletzung seines Anspruchsgegners, auf die er seinen Anspruch stützt. Liegt also die Pflichtverletzung in der versicherten Zeit, so steht dem Versicherungsnehmer ein Deckungsanspruch aus seinem Rechtsschutzversicherungsvertrag zu.

Was ist noch „Unversicherten“ zu raten?

Bevor es also zu einem Versicherungsfall kommt, sollten Interessenten – bzw. noch nicht Rechtsschutzversicherte – dringend eine Rechtsschutzversicherung abschließen. Ebenfalls ist Versicherungsvermittlern zu raten, den Kunden den Abschluss einer Rechtsschutzversicherung frühestmöglich anzuraten. Denn ist der Versicherungsfall bereits eingetreten und hat der Versicherte zu diesem Zeitpunkt keine Rechtsschutzversicherung, so muss der Versicherte Rechtsanwaltskosten und Prozesskosten aus eigener Tasche bezahlen. Dieses kann in Versicherungsprozessen – zum Beispiel bei einem Rechtsstreit mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung – sehr teuer werden.

Weitere Informationen und Rechtsprechungen haben wir für Sie unter „Versicherungsrecht“ und themenspezifisch unter „Rechtsschutzversicherung“ zusammengefasst.

Zum Autor: Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke

Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke ist Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte und seit 2017 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Während seiner Anwaltstätigkeit hat er bereits eine Vielzahl von gerichtlichen Verfahren im Versicherungsrecht geführt und erfolgreich für die Rechte von Versicherungsnehmern gestritten.

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